Contributions to Imaginations in the Corona Crisis
At the beginning of the summer semester program on April 16, 2020, the team of CAS "Imaginaria of Force " addressed different perspectives on the corona virus and closely related topics, which can be read here in abbreviated form (in German language):
Prof. Dr. Frank Fehrenbach: Das Bild aus Bergamo, oder: „The common bond is the movie theater“ (20.6.2020)
Die Krisen der Neuzeit bringen regelmäßig ikonische Bilder hervor, aber in der aktuellen Auseinandersetzung mit der Pandemie kommt es wohl erstmals dazu, dass bereits der sprachliche Verweis auf einen ominösen Bilderberg zum Topos wird: „Die Bilder aus Bergamo“. Kaum eine Debatte, die ohne diese Formel auskommt: „Immer wieder verweist Laschet auf Bilder im März aus Bergamo, wo Militärfahrzeuge Leichen abtransportierten - diese Bilder schufen eine neue Lage.“[1] - „Die Bilder aus Bergamo haben die Wenigsten noch präsent. Dabei ist das um die Ecke.“[2] - „Wir haben die Bilder in Bergamo gesehen, und wir hätten es als deutsche Bevölkerung ethisch kaum ausgehalten, wenn es bei uns solche Szenen gegeben hätte.“[3]
Mit den „Bildern aus Bergamo“ sind drei Sujets angesprochen. Das erste – eine dichte Reihung von Särgen, angeblich in einer Kirche der Stadt - wurde inzwischen als fake news entlarvt, weil die Bilder in Wirklichkeit 2013 auf der Insel Lampedusa aufgenommen worden waren.[4] Die Bilder des zweiten Motivs, die das Drama der überfüllten und improvisierten Intensivstationen in Bergamo dokumentieren, erlangten keinen ikonischen Status, weil sie nicht spezifisch genug waren: Ähnliche Szenen finden zu jeder Zeit in Krankenhäusern der ganzen Welt statt. Erst das dritte Bildthema – ein nächtlicher Konvoi von Militärlastern, die Leichen aus der Stadt bringen – ‚ging viral’. Zumeist bezieht sich die vage Rede von den „Bildern aus Bergamo“ auf dieses Motiv.
Genau genommen handelt es sich um ein einziges Bild. Es wurde am Abend des 18.3. von dem 28-jährigen Ryanair-Flugbegleiter Emanuele di Terlizzi aufgenommen. Lucien Scherrer hat in der NZZ vom 30.5. die Entstehungsgeschichte und die Verbreitungsdynamik des Handy-Fotos ausführlich rekonstruiert.[5] Auffällig ist die Bedeutungsverschiebung, die das martialische Motiv gleich nach seiner digitalen Verbreitung erfuhr. Als der Augenzeuge seinen Schnappschuss ins Netz stellte, ging er noch davon aus, dass es sich um militärische Hilfe für den Aufbau eines Notkrankenhauses handelte; ein vergleichsweise banales Sujet. Erst ungenannte Distributoren des Bildes wussten Bescheid. Ein einziger digitaler super-spreader erreichte noch am selben Abend mit dem korrekt bezeichneten Bild über sein soziales Netzwerk rund 2500 followers. Am nächsten Morgen schlug die mediale „Bombe“ (di Terlizzi) ein und wurde zur entscheidenden „Zäsur“ (Scherrer) in der weltweiten medialen Aufmerksamkeitslenkung. Das „Symbolbild des Todes“[6] scheint in seiner Wirkmacht den brennenden Doppeltürmen von 9/11 nahe zu kommen. Es braucht wenig prophetische Gabe um zu vermuten, dass man sich an genau dieses Bild erinnern wird, wenn man an den „schwarzen Schwan“ COVID-19 zurückdenkt, der momentan in Italien wie in anderen Ländern genauso schnell zu sterben scheint wie seine Artgenossen SARS und MERS.[7]
Abb. 1: Militärfahrzeuge in Bergamo aus: NZZ 30.05.2020
Das vom Balkon aufgenommene Foto zeigt eine angeschnittene Reihe von sieben bis neun Militärfahrzeugen auf einer ansonsten unbefahrenen Straße. Die eng hintereinander und daher wohl sehr langsam fahrenden Lastwagen passieren eine Reihe akkurat geparkter Kleinwagen, die dem Konvoi ihre Kühlerfront in der Bewegungsrichtung zuwenden. Einige erleuchtete Fenster im Hintergrund deuten an, dass sich dort Menschen im Innern ihrer Wohnhäuser aufhalten. Die Perspektive erzeugt eine stark fallende Diagonale von rechts oben nach links unten. Der Fotograf versuchte offensichtlich, möglichst viele Fahrzeuge abzubilden. In Wirklichkeit bestand der Konvoi aus dreizehn Lastwagen, aber der dramatische Schnitt des Bildes erzeugt den Eindruck einer unendlich langen Kolonne. Damit löste das Bild weltweit Entsetzen aus. Die Konnotation war eindeutig: Die Zustände in Bergamo sind so schlimm, dass die Armee die überwältigende Zahl der Pandemie-Opfer abtransportieren muss. Die Kraft des Bildes beruht auf der (scheinbaren) Kontingenz des Ausschnitts, der fallenden Diagonale (gegen die Leserichtung) und der Menschenleere, die zum Eindruck einer anonymen nächtlichen Militäraktion beiträgt: eine zuschauerlose pompe funèbre ohne Anfang und Ende.
Es ist die Crux dokumentarischer Bilder, dass sie auf Kontextualisierung ganz besonders angewiesen sind. Wir wissen heute, warum das Militär zum Einsatz kam. Dies geschah nicht primär wegen der Zahl der Verstorbenen; solche Mortalitätsschübe sind auch bei regulären Grippewellen, deren Opferzahlen in Italien häufig erstaunlich hoch liegen, nicht unüblich.[8] Der Schluss auf Leichenberge, die nur noch von Soldaten weggeschafft werden können, geht ebensosehr in die Irre wie die Vermutung, dass die Gruppenbegräbnisse von Holt Island – ein ebenfalls stark zirkulierendes Motiv - den Kollaps des Funeralbetriebs in New York dokumentieren.[9] Dort enthüllten die Drohnenaufnahmen eine lange bestehende Praxis, für die man sich bisher kaum interessiert hatte: die Bestattung von Armen und Obdachlosen ohne Angehörige durch inmates der Gefängnisinsel. Ähnlich wie bei diesen Bildern dokumentiert das „Bild aus Bergamo“ vor allem die Kontingenzen der sozialen Wirklichkeit, nicht den virusinduzierten Systemkollaps, der zum Zivilisationsbruch führt.
Das italienische Militär wurde in der Nacht vom 18.3. in Bergamo (und danach in einigen anderen italienischen Städten) nicht eingesetzt, um überwältigend viele Leichen abzutransportieren, sondern aus Angst vor dem „Killervirus“[10]. Den Angehörigen, die allesamt in strenger Quarantäne verharren mussten, war es bei Androhung drakonischer Strafen verboten, sich wie sonst üblich um ihre Verstorbenen zu kümmern. Lokale Akteure beschlossen die unverzügliche Einäscherung der Seuchenopfer. Weil normalerweise lediglich knapp die Hälfte der Verstorbenen kremiert werden, reichten die Kapazitäten des Ofens im Zentralfriedhof von Bergamo nicht aus. Die Leichen mussten also zu Friedhöfen in der Umgebung gebracht werden. Logistisch und sicherheitstechnisch war dazu anscheinend nur das italienische Heer in der Lage. Der nächtliche Transport, der dem makabren Bild die unvergleichliche Dramatik gibt, geschah vor allem, um den Vorgang so gut wie es ging zu verheimlichen.[11] Erreicht wurde damit das Gegenteil. Die Wucht des Bildes korreliert direkt mit der Praxis der Vertuschung und der mangelhaften Ausstattung mit banalen Atemschutzmasken insbesondere in Alters- und Pflegeheimen, die inzwischen als Kernproblem nicht nur des italienischen Seuchendramas klar erkennbar sind.[12]
Eine „Zurückhaltung im Bildgebrauch“ beobachtet Johannes Grave im Hinblick auf die unablässigen Vergleiche, die in der aktuellen Pandemie gezogen werden.[13] Man könnte hier fragen, ob fotografische Vergleiche bei krisenhaften Zuspitzungen überhaupt nur durch explizite Gegenüberstellung funktionieren. Ohne Zweifel stehen aber Bilder in der aktuellen, von einem unsichtbaren Virus bestimmten Lage nicht mehr länger im Vordergrund, solange sie nicht die allgegenwärtige Fixierung auf Zahlen diagrammatisch umsetzen. Die Corona-Krise ist auch dadurch gekennzeichnet, dass Bilder durch die Entleerung des öffentlichen Raums und das social distancing nicht mehr zur Dramatisierung taugen; ein schlagender Gegensatz zur Triebkraft des Visuellen, der bei ‚normalen’ Krisen die politischen Entscheidungsträger häufig atemlos folgen. Umgekehrt ließe sich sagen: Das Vermeiden anstößiger, traumatischer Bilder als Hauptmotiv politischen und administrativen Handelns wird durch den lockdown erleichtert, der dadurch als Hebel zur Reduzierung des medialen und öffentlichen Drucks auf die Politik erscheint. Nur ein großer player auf der Bühne der öffentlichen Aufmerksamkeit, die katholische Kirche, hat die Kraft der Bilder bewusst eingesetzt und damit als Gestaltungsfeld wahrgenommen, aber auch dies geschah vorwiegend zu Beginn der Pandemie.[14] Inzwischen triumphieren Zahlen und Worte, denn auch die Diagramme verlieren dort an Interesse, wo „die Kurve flach wird“. Die Nationen hängen stattdessen an den Lippen ihrer Chef-Virologen. Und am 24.5.2020 verwandelte die New York Times ihre Titelseite in eine bilderlose ‚Bleiwüste’ mit Kurz-Nachrufen auf 1000 Corona-Tote, die von Kommentatoren sofort mit den anikonischen Namenslisten des Vietnam-Memorials (Krieg), von Yad Vashem (Holocaust) und des 9/11-Memorials (Terrorismus) verglichen wurden – ein höchst problematischer Vergleich.[15]
Noch immer aber spielen die vielbeschworenen „Bilder aus Bergamo“ eine entscheidende Rolle für die Einhaltung seuchenpolitischer Maßnahmen. Der unablässige, warnende Hinweis auf „die Bilder“ könnte der Tatsache geschuldet sein, dass keine einzelne dieser Fotografien die erklärungsfreie Wucht des Ikonischen für sich beanspruchen kann. Am ehesten rührt noch der nächtliche Zug der Militärfahrzeuge zu den Krematorien der Umgebung an diese Evidenz. Das Bild ist auch deshalb so stark, weil damit andere, historische Bilder von Zivilisationsbrüchen assoziativ aufgerufen werden: etwa die lange Reihe von Särgen, die aus dem befreiten Auschwitz getragen wurden, und das Krematorium, in das man dort die Ermordeten zuvor verbracht hatte. Die kategorische Differenz der jeweiligen Kontexte besitzt in der latenten Gewalt einen vagen gemeinsamen Fluchtpunkt, der die Aufmerksamkeit fesselt. Eine Balance zwischen Panik und Vorsicht, zwischen Affizierung und Distanzierung durch Bilder, wie sie Franca Buss und Philipp Müller vor kurzem brilliant postulierten[16], wird man beim Umgang mit dem „Bild aus Bergamo“ aber nicht erkennen können. Der Horror, den es erzeugt, verdankt sich der Tatsache, dass es so wenig zeigt. Das macht seine allgegenwärtige Instrumentalisierung als Bild einer vagen und zugleich schrecklichen Bedrohung so einfach wie verlockend.
Immer wieder wurde zurecht betont, wie die New Yorker Flugzeugattentate vom 11.9.2001 in ungezählten Filmbildern antizipiert wurden. Die Einholung der Bilder durch die Realität verstärkte den visuellen Schock. Auch in „Bergamo“ stand Hollywood Pate. Vier Tage vor „dem Bild“ meldete „Netflix“, dass Wolfgang Petersens Pandemie-Drama „Outbreak“ von 1995 auf dem neunten Rang der meistgesehenen Filme der Video-Plattform stand und tagesaktuell den fünften Rang einnahm. „Outbreak“ antizipiert die „Bilder von Bergamo“ mit seinem nächtlichen Einmarsch des Heeres in die friedliche, vom tödlichen Virus heimgesuchte Kleinstadt „Cedar Creek“ in Nordkalifornien und mit den anschließenden chaotischen Szenen im örtlichen Krankenhaus, wo sich die Schwerkranken auf den Fluren drängen; das Heer übernimmt im Film auch den Abtransport der Leichen. Der Film enthält zentrale Textpassagen der anschließenden politischen Medienstrategie. „We are at war, Billy!“, ereifert sich der sinistre General McClintock, der das Virus, seine perfekte Biowaffe, vor dem Zugriff der Virologen retten will.
Abb. 2-4: Stills aus "Outbreak" (Regie: Wolfgang Petersen, 1995)
Nur zwei Tage vor dem Heereskonvoi von Bergamo bereitete der französische Präsident mit seiner Ankündigung, dass man sich im Krieg befinde, den Boden, auf dem „das Bild aus Bergamo“ einschlagen konnte. Noch am Abend seiner massenmedialen Verbreitung schloss sich Macrons amerikanischer Kollege erwartungsgemäß mit einer Steigerungsformel an: „our big war“. Spätestens in diesem Moment verwandelte sich die Sorge in diffuse Angst; „Bergamo“ erschien als déja-vu von Petersens Klassiker. Die bereits am 16.3. verkündeten Lockdown-Maßnahmen in Deutschland wurden am 23.3. nochmals verschärft, weil man „die Bilder aus Italien, Spanien oder Frankreich [...] nicht auch in Deutschland haben [wollte].“[17] Zu diesem Zeitpunkt war die Reproduktionsrate des Virus, die seit 10.3. stark zurückging, bereits seit mehreren Tagen unter den kritischen Wert von „1“ gefallen (RKI). - Die Ansteckung der Imagination findet durch Bilder statt: „The common bond is the movie theatre,“ stellt der Held des Filmes, Colonel Sam Daniels, in einer ebenso hellsichtigen wie metakünstlerischen Bemerkung fest.
Gerade Kriegszeiten, das hat das vergangene Jahrhundert immer wieder bewiesen, sind aber Sternstunden der Bürokratie. Inzwischen hat die Stadtverwaltung den Angehörigen der unsichtbaren Toten im „Bild aus Bergamo“ eine üppige Rechnung für die unerbetenen Transport- und Einäscherungsmaßnahmen zukommen lassen. Man mag es für das Hoffnungszeichen einer wiederkehrenden ‚Normalität’ halten, dass sich die Hinterbliebenen sofort organisiert und Klage eingereicht haben.[18]
[1] https://www.tagesspiegel.de/politik/lockern-bis-es-kracht-laschets-ungeduld-wird-zum-problem-fuer-merkel/25778472.html - Ich danke Jasmin Mersmann, Philipp Müller und Ulrich Pfisterer für kritische Kommentare.
[2] https://www.sueddeutsche.de/politik/thueringen-ramelow-corona-1.4898742
[3] https://www.welt.de/politik/deutschland/article208617881/Carsten-Linnemann-CDU-Aus-Kurzarbeitern-koennen-viele-Arbeitslose-werden.html
[4] https://www.reuters.com/article/uk-factcheck-italy-coffins/false-claim-photo-shows-coffins-of-coronavirus-victims-in-italy-idUSKBN21F0XL. Die Rekonstruktion der genauen Umstände dieser Fälschung wäre sehr zu wünschen.
[5] https://www.nzz.ch/feuilleton/corona-krise-das-bild-das-um-die-welt-gegangen-ist-ld.1558320
[6] https://www.ilmessaggero.it/italia/coronavirus_bergamo_cremazioni_cimiteri_salme_vescovo_curia_epidemia-5120255.html
[7] https://www.repubblica.it/cronaca/2020/05/31/news/coronavirus_zangrillo_il_covid_clinicamente_non_esiste_piu_qualcuno_terrorizza_paese-258111004/
[8] https://akashictimes.co.uk/study-sheds-light-on-death-rate-and-flu-viruses-in-italy/
[9] https://www.theguardian.com/us-news/2020/apr/12/new-york-city-burials-parks-coronavirus-plague
[10] https://www.zeit.de/2020/23/klaus-pueschel-coronavirus-angst-infektionsschutz-rechtsmedizin
[11] https://www.nzz.ch/feuilleton/corona-krise-das-bild-das-um-die-welt-gegangen-ist-ld.1558320
[12] Vgl. https://milano.repubblica.it/cronaca/2020/04/11/news/coronavirus_pio_albergo_trivulzio_indagato_direttore_generale_calicchio_anziani_morti-253727130/ und https://www.nzz.ch/gesellschaft/wieso-italien-dem-virus-erlag-ld.1562191?mktcid=smsh&mktcval (20.6.2020)
[13] https://vergleichen.hypotheses.org/583#more-583
[14] Siehe Frank Fehrenbach: Resurrexit?, https://www.imaginarien-der-kraft.uni-hamburg.de/aktivitaeten/kurzbeitraege-corona.html
[15] https://www.tagesspiegel.de/kultur/titelseite-der-new-york-times-ein-akt-des-widerstands-und-der-humanitaet/25858812.html
[16] https://www.imaginarien-der-kraft.uni-hamburg.de/kolleg/news/2020-05-28-corona-beitrag-mueller-buss-lisa.html
[17] https://www.merkur.de/welt/ard-corona-ranga-yogeshwar-deutschland-lockdown-pandemie-verlauf-massnahmen-rki-shutdown-kritik-zr-13700449.html
[18] https://www.ilmattino.it/primopiano/cronaca/coronavirus_bergamo_morti_bare_fattura_ultime_notizie_26_aprile_2020-5193802.html
Prof. Dr. Frank Fehrenbach: Resurrexit?
Am Abend des 27. März 2020, nach der dritten Woche einer beispiellosen Ausgangssperre in ganz Italien, lud Papst Franziskus I. zum gemeinsamen Gebet gegen die Seuche ein, das er auf den Stufen der Petersbasilika sprach. Den Gläubigen wurde dabei ein Generalablass von den zeitlichen Sündenstrafen gewährt, auch wenn sie wegen der Seuchenschutzmaßnahmen nicht die Eucharistie empfangen konnten. Vor der menschenleeren, regenüberströmten Piazza wurde der katholische Oberhirt an der Fassade von St. Peter von der wichtigsten Marienikone der Stadt, Salus Populi Romani aus Santa Maria Maggiore und dem wundertätigen Holzkruzifix von San Marcello in Via Lata flankiert. Im Hintergrund ragten Berninis Baldachin und seine Cathedra Petri majestätisch im geöffneten Hauptportal der Kirche auf. Während der Papst die Stadt und den Erdkreis mit dem apotropäischen Corpus Domini in einer goldenen Monstranz segnete, erklangen die Glocken von Sankt Peter und heulten die Sirenen der Ambulanzen.
Abb. 1: Beim Gebet mit Papst Franziskus
Das Spektakel auf der menschenleeren Piazza San Pietro erzielte die für das Vorabendprogramm enorme Einschaltquote von mehr als 25 Prozent. Während die angeblich vom Evangelisten Lukas gemalte Madonnenikone in einem klimatisierten Sicherheitsbehälter aufgestellt wurde, war die Skulptur starkem Regen ausgesetzt. Das nach nordalpinen Vorbildern in den 1370er Jahren geschaffene Kreuz überstand nach der Legende den Brand von San Marcello im Jahr 1519 und half drei Jahre später, im Anschluss an eine achtzehntägige Prozession, die Pest in Rom zu besiegen.
Die sofortige Kritik der Restauratoren fiel erwartungsgemäß ebenso heftig aus, wie sie bei fragwürdigen Ausstellungen zumeist von vornehmer Zurückhaltung geprägt ist. Dabei wurde übersehen, dass die Ausnahmesituation der Pandemie in der Logik der Kultbildpraxis ungewöhnliche Maßnahmen zur Präsenzsteigerung ihrer Objekte verlangt. Die ungemein suggestiven Bilder zeigten einen Corpus, dessen gemaltes Blut fiktiv aus der Seitenwunde quoll, während der reale Regen über seine Brust floss. Vatican News titelte noch am selben Tag: „Das Kruzifix von den Tränen des Himmels überflossen, der Papst allein auf der leeren Piazza“. Der Artikel fuhr emphatisch fort: „Der Protagonist des Gebets am Abend des 27. März [...] war er: Der Gekreuzigte / das Kruzifix (il Crocifisso), mit dem prasselnden Regen, der seinen Körper benetzte, wie um dem gemalten Blut auf dem Holz das Wasser hinzuzufügen, von dem das Evangelium schreibt, dass es aus der Wunde quoll, die ihm die Lanze zufügte.“ Die Skulptur erwachte durch das fließende Wasser zum Leben eines Sterbenden, der den Tod besiegen wird und dem der Autor zum Schluss auch noch die Stimme verlieh: „[...] auch heute wiederholt er für uns: Warum fürchtet ihr Euch? Habt Ihr den Glauben verloren? ... Habt keine Angst.“
Wenige Tage später gestand der italienische Oscar-Regisseur Paolo Sorrentino, dass die diesjährigen römischen Inszenierungen der Passionszeit seine eigene Arbeit in den Schatten stelle und dass ihm das Spektakel den Glauben an die „Kraft des Bildes“ zurückgegeben habe. Der Meisterregisseur des Vatikans stand gleich neben dem Papst auf der Bühne der Liturgie: Guido Marini, Kirchenjurist und Kommunikationspsychologie, wurde 2007 von Benedikt XVI. zum päpstlichen Zeremonienmeister ernannt. Marini brachte das Kunststück fertig, das Holzkruzifix in den österlichen Inszenierungen von 2020 zum lebendigen Protagonisten und zum himmlischen Interzessionsobjekt der Seuchenkatastrophe zu machen. Das Bild des toten Heilands stellte die Madonnentafel in den Schatten.
Am Gründonnerstag warf sich der Papst, in das purpurne Gewand des Blutzeugen gekleidet, vor dem ebenfalls blutrot verhüllten Kruzifix nieder, das anschließend rituell entschleiert wurde. Die einsame Zwiesprache des Stellvertreters Christi auf Erden mit seinem Herrn setzte sich am Karfreitag auf der fackelbeleuchteten Piazza fort. Die österliche Hoffnung auf den Sieg über den Tod verband sich mit der imaginären Verlebendigung eines Artefaktes, dem Wunderkräfte zugesprochen werden. Es kennzeichnet die Klugheit, vielleicht aber auch die Skepsis des Jesuitenpapstes, dass diese Hoffnung keiner „bildmagischen“ Gewissheit wich. Anstelle der durch Johannes Paul II. wieder in die Osterliturgie eingeführten mittelalterlichen Homelie „Resurrexit“ setzte Franziskus die Leere des Schweigens. Nichts kennzeichnet die epochale Verdüsterung Italiens im Jahr 2020 präziser als die Tatsache, dass bereits die Auferstehungs- und damit Überlebenszuversicht als Kern der Osterbotschaft zu optimistisch erschien. Im Schweigen des Papstes spiegelte sich die Stummheit des hölzernen Bildwerks, dessen Wunderkraft sich erst noch erweisen soll, bevor man an seine Belebung glaubt.
Abb. 1: Beim Gebet mit Papst Franziskus [https://www.santegidio.org/pageID/30284/langID/de/itemID/35272/Beim-Gebet-mit-Papst-Franziskus-Video-und-Homilie.html]
Dr. Lutz Hengst: „Tertium imaginationis“. Kultur- und kunsthistorische Notizen zu verschiedenen Vergleichsgrößen in Zeiten ausgreifender Infektionen
Vorschnelles Vergleichen empfiehlt sich generell nicht. Es nicht zu tun, scheint, inmitten der pandemischen Ausbreitung eines neuartigen Virus, ein Gebot der Stunde für die gesamte Wissenschaft (obwohl damit im aktuellen öffentlichen Diskurs in der Regel Medizin und wenige weitere empirische Disziplinen angesprochen sind). Schließlich fehlen noch langfristig valide Kennzahlen zum SARS-Corona-Virus-2 und somit Substrat zur Bildung eines belastbaren Tertium comparationis. Auf so unsicherer Basis ist in der Tat geraten, weder Superlative zu bedienen noch eilfertig Relativisten zuzuarbeiten (mit ihrem Ruf: „Alles nicht schlimmer als bei der Grippe!“). Vergleiche nicht primär in der Sache, sondern in der Zeit können dennoch von Wert sein. Und sei es, um für Grenzen des Vergleichens zu sensibilisieren. Denn viele Vergleiche erfordern die per se verkürzende Verlagerung auf ein Drittes, mit dessen Hilfe aufeinander beziehbar gemacht werden soll, was nach räumlicher und historischer Situation, nach Gestalt, Form, Kontext oder Anlage verschieden ist. In der Verlagerungsbewegung kann, so eine These dieser Notizen, ein Vergleich einer zusammenraffenden Imaginationsbewegung ähneln, die ich weiter unten illustrieren will. Sie drückt sich in Vorstellungen aus, durch die potentielle Reichweiten des Infektiösen redimensioniert werden.
Zunächst zu einem historischen Vergleich, der sich angesichts von aktuell geltenden Abstandsregeln anbietet: Jener mit den Cholera-Epidemien im Europa des fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts. Dieser Tage wird etwa in Erinnerung gerufen[i], dass Robert Koch den schweren Hamburger Cholera-Ausbruch des Jahres 1892 unter anderem erfolgreich durch den Aufruf zu Schulschließungen bekämpfte. Koch hatte, anschließend an frühere Arbeiten anderer, erkannt, dass die Cholera durch ein Bakterium (Vibrio cholerae) ausgelöst wird, das vor allem im Stuhl Erkrankter gefunden werden kann und das dort grassiert, wo hygienische Standards schlecht streng einzuhalten sind. Hygienemaßnahmen zur Eindämmung der Cholera verordnete in München auch Max von Pettenkofer, der im Stil anekdotischer Wissenschaftsgeschichtsschreibung zum klaren Kontrahenten Kochs erklärt worden ist.[ii] Über bloße Konkurrenz hinaus, ist bemerkenswert, dass Pettenkofer ebenfalls erfolgreich zur Cholera-Bekämpfung beitrug, obwohl er, anders als Koch, die Epidemie-Ursache nicht in einem spezifischen Bakterium ausmachte. Er bestritt dies sogar nachdrücklich. Gleichwohl richtete er sein Augenmerk auf die notwendige Sanierung sozusagen riechbar überforderter Kanalisationssysteme. Indem Pettenkofer bei deren Gestank ansetzte, reihte er sich in die alte, bis auf Hippokrates zurückreichende Tradition, Krankheiten Miasmen respektive gefürchteten „üblen Dünsten“ zuzuschreiben. Im Wirkjahrhundert Pettenkofers finden sich Grafiken wie die hier beigegebene Robert Seymours, die die Cholera als eine Art von Tod imaginieren, der schwebend aus den Wolken und der Luft unterschiedslos auf ohnmächtige Menschen herabkommt.
Abb. 1: Robert Seymour: Cholera "Tramples the victors & the vanquished both.", Farblithographie von 1831.
Die Assoziation mit tödlichem Dunst ging – wie wir seit Robert Kochs (und zuvor Filippo Pacinis) Nachweisen wissen – über die ursprünglichen Verbreitungswege der Cholera irreführend hinaus. Nicht nur, dass CoViD-19 durch ein Virus und nicht bakteriell ausgelöst wird – auch hinsichtlich der Verbreitungswege liegen einige Dinge im Vergleich zur Cholera diametral: Üble Dünste scheinen für das virale Ansteckungsgeschehen zwar kein übertrieben präzises Bild, doch dass SARS-CoV-2 in der Lage ist, sich eine Weile als virales Aerosol in der Luft zu halten, konnte nachgewiesen werden. Allein hinsichtlich der genaueren Einschätzung von Risiken einer Übertragung in besonderen Umgebungen und Konstellationen, zum Beispiel im Freien beim Lauf- und Radsport, besteht derzeit noch Uneinigkeit.[iii] Dass Abstandhalten als solches die Verbreitung von CoViD-19 über Tröpfchen in der Atemluft ausschließen hilft, ist unstrittig. Eine Angst vor der Aerosphäre schiene damit heute fundierter als während der lange Dünste-ängstlichen Cholera-Phasen (die im Übrigen als solche global gesehen leider noch nicht überall beendet sind). Dass Dunst-Angst wegen SARS-CoV-2 entsprechend viel verbreiterter wäre, lässt sich nicht ohne Weiteres durch Beobachtungen stützen. Eher im Gegenteil: Strecken in beliebten Naherholungsgebieten machen, mindestens bei sonnigem Wetter und an Wochenenden, fast einen frequentierteren Eindruck als vor der Pandemie. Wieder aus einem Ansatz zu kulturhistorischer Vergleichung heraus, könnte diese ostentative Breitenbewegung in der Krise beinah an turnerbündische Ertüchtigungskampagnen des 19. Jahrhunderts erinnern. Für Massenaufläufe just zu Zeiten von Bleiben-Sie-bitte-zuhause-Appellen könnte jedoch, neben dem Wunsch nach regelmäßiger Variation und großer Gesellschaft, ein einfacher psychologischer Effekt entscheidender sein als der Zug zu neu (nämlich quasi-individualistisch) gewendeter Volksertüchtigung – etwa so, wie wenn einem gesagt wird: „Ab jetzt für eine Weile bitte nicht am Knie kratzen“; woraufhin es gleich und zuverlässig um etliche Beingelenke zu kribbeln anfangen wird... Nun, so zahlreich die Motivationen für das Nicht-zuhause-Bleiben individuell sein mögen, so deutlich drückt sich aus, dass die Angst vor aerosoler Infektion bei vielen heute schwach ausgeprägt sein muss (genauso wie damit die Sorge, so selbst andere potentiell zu gefährden).
Zur gleichen Zeit sieht sich die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aufgefordert, in ihren FAQ auch darauf einzugehen, ob SARS-CoV-2 durch Stechmücken übertragen werden kann.[iv] Für eine abschließende Antwort fehlen wieder allerletzte Gewissheiten. Doch die Überlegung erscheint angesichts einer im Kern respiratorischen Erkrankung mit bekannten Hauptverbreitungswegen, auf die auch die Bundeszentrale verweist, vergleichsweise abwegig. Ob es nun dieselben Personen sind, die Ängste vor Infektionen bei der geballten Bewegung im Freien für sich ausblenden und dann solche Fragen stellen oder ob es die grundsätzlich Ängstlicheren sind, kann hier nicht geklärt werden. Womöglich erlaubt die Frage nach der Mücke aber, die Angst vor dem Unwägbaren lufträumlicher Verbreitung überhaupt auf den Radius eines immerhin bekannten Überträgerinsekts zu kanalisieren.
Als Kunsthistoriker mit einem Forschungsschwerpunkt im 20. Jahrhundert fühle ich mich bei Angstbewegungen auf einen Nebenschauplatz hin an eine rezeptive Verzerrung erinnert: Ohne dass es identisch mit dem vorherigen Beispiel wäre, erkenne ich darin ein ähnliches reaktives Bewegungsmuster, das sich im Zusammenhang mit einer Arbeit Jenny Holzers aus dem Jahr 1993 gezeigt hat. Für das Magazin der Süddeutschen Zeitung gestaltete die Künstlerin im November des Jahres eine Ausgabe unter der Überschrift ‚Lustmord‘. Darin nahm sie auf das Schicksal von Frauen Bezug, die während der Kriege zwischen post-jugoslawischen Balkanländern in Lager verschleppt, schwer misshandelt und nicht selten ermordet wurden. Für das Cover des Magazins verwendete Holzer in roten Lettern die Sentenz „Da wo Frauen sterben bin ich hellwach“. Der roten Druckfarbe war, so ließ sie verbreiten, ein Teil menschlichen Blutes beigegeben. Diese Information konnte sich unter Umständen des Magazinbesitzes zusätzlich mit der haptischen Erfahrung verbinden, dass der Heftdeckel im Bereich der bluthaltigen Lettern tatsächlich eine spürbar andere, erhabenere[v] Körnung aufwies. Beides trug dazu bei, dass eine Rezeptionsbewegung dahin ging, zu fragen, ob das verwendete Blut womöglich infektiös sei. Dem wurde widersprochen und auch 1993, kaum zehn Jahre nach der weltweiten Verbreitung des sogenannten AIDS-Schocks, dürfte bei nüchterner Betrachtung klar gewesen sein, dass eine HIV-Übertragung auf dem Wege geringer Mengen noch dazu transformierten Blutes praktisch unmöglich ist. Vielleicht sollte mit der infektionsängstlichen Frage erneut eine größere Unheimlichkeit, die des Gewaltexzesses, abgewiesen oder auf einen kleineren Betroffenheitsradius gebracht werden.
Mithilfe der hier angestrengten, immer nur partiell belastbaren und thesenförmigen, Vergleiche lässt sich Folgendes resümieren und zum Schluss krafttheoretisch akzentuieren: In Situationen, in denen der Verlass auf Abwehrkräfte fundamental in Frage gestellt wird, gedeihen auch Imaginationen zur Kanalisierung des Infektionsgeschehens. Sie können von Phantasien der eigenen Unerreichbarkeit („dem Virus davonlaufen“) bis zum Bestreben reichen, diffuse Ängste auf den Maßstab einer bestimmten Angstvorstellung zu bringen. Beides bindet sich an etwas, das Infektionskraft genannt werden kann. Denn Kraftassoziationen haben gerade dort diskurshistorisch Konjunktur, wo Wirkzusammenhänge und -reichweiten nicht mit letzter Sicherheit geklärt sind.[vi]
[i] Siehe - unter anderen, hier in kartographisch anschaulichem Kontext – in Timo Bonengels Gothaer Forschungsblog-Beitrag vom 14.4.20 (zuletzt aufgerufen am 19.4.20): https://www.gotha3.de/forschungsblog/archives/4653
[ii] Vgl. unlängst Abschnitt 6 bei: Wolfgang G. Locher: Max von Pettenkofer. Pionier der wissenschaftlichen Hygiene. Regensburg 2018
[iii] Zur Diskussion vgl. beispielsweise den studien-zusammenfassenden Online-Artikel im Ärzteblatt vom 6.4.20 (zuletzt aufgerufen am 19.4.20): https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/111727/SARS-CoV-2-Infektion-ueber-die-Luft-nicht-auszuschliessen
[iv] Vgl. den entsprechenden Eintrag in der Fragen-und-Antworten-Rubrik der Corona-Sonderseiten auf dem BzGA-Portal infektionsschutz.de, zuletzt aufgerufen am 19.4.20: https://www.infektionsschutz.de/coronavirus/fragen-und-antworten/ansteckung-und-krankheitsverlauf.html
[v] Dazu und zur Arbeit insgesamt vgl. bündig wie zeitnah: Ines Lindner: Die exakte Stummheit des Details. Über Jenny Holzers Arbeit für das Magazin der Süddeutschen Zeitung. In: kritische Berichte; 3/94, S. 16-21, hier S. 17.
[vi] Besonders prägnante Beispiele liefert die frühneuzeitliche (Vor-)Geschichte der Physik, dazu vgl. als ein Exempel etwa: Fritz Krafft: Sphaera activitatis — orbis virtutis. Das Entstehen der Vorstellung von Zentralkräften. In: Sudhoffs Archiv; 54 (2/1970), S. 113-140, hier summierend bes. S. 139.
Abb. 1: Robert Seymour: Cholera "Tramples the victors & the vanquished both.", Farblithographie von 1831 (Copyright: The U.S. National Library of Medicine, Digital and public domain Collections, 2020).
Dr. Dominik Hünniger: Bierbrauen, Gottvertrauen und Quarantäne – Ansteckungs- und Heilungskräfte bei Rinderseuchen im 18. Jahrhundert
Vielen wird durch die Berichterstattung über Covid-19 wieder bewusst geworden sein, dass Menschen und andere Tiere gleichsam von Seuchen betroffen sind und waren. Oft gab und gibt es Übertragungen zwischen ihnen. Die Geschichts- und andere Kulturwissenschaften beschäftigen sich allerdings erst seit kurzen mit Tiergeschichte und dem historischen Verhältnis von Menschen zu anderen Tieren. In der Medizingeschichte sind „one health“ Herangehensweisen derzeit ebenfalls sehr produktiv. [https://www.palgrave.com/gp/book/9783319643366]
Wenn im Moment über historische Epidemie- und Pandemieereignisse gesprochen wird, stehen die Beulen- bzw. Lungenpest, die Cholera, oder die sogenannten „Spanische“ Grippe im Vordergrund. Dass Menschen aber auch weitreichende Erfahrungen mit Seuchen bei Tieren gemacht haben, ist weniger bekannt. Im 18. Jahrhundert gab es zum Beispiel mehrere Wellen verheerender Rinderseuchen in Europa. [https://www.wachholtz-verlag.de/Wissenschaft/Die-Viehseuche-von-1744-52.html] Für das damalige Verständnis des Seuchengeschehens sowie für den Umgang mit der Pandemie spielten Kraftkonzepte und -metaphern eine wichtige Rolle.
Anhand eines lokalen Beispiels aus Hamburg lässt sich das Denken über ansteckende Krankheiten im Wissensfeld der Kraft ausgezeichnet erläutern. Im Jahre 1746 veröffentlichte der Hamburger Garnisonsarzt Georg Hannaeus einen Bericht über seine Obduktionen von an der Seuche gestorbenen Rindern.
Ganz generell ist zu den medizinischen Diagnosen im 18. Jahrhundert zu sagen, dass die gelehrten Ärzte noch bis in die 1760er Jahre ihre Beschäftigung mit den „niederen Kreaturen“ verteidigen mussten, da Veterinärmedizin als Fach und Wissensbestand noch nicht akademisch verankert war. Die Legitimierung der Profession war allerdings nicht die einzige Schwierigkeit der tiermedizinischen Erkenntnisgenerierung im 18. Jahrhundert. Der medizinischen Fachwelt gelang es nur äußerst schwer, das bisherige medizinische Wissen und die aus den Beobachtungen des Seuchenverlaufs entstandenen Erfahrungen in Einklang zu bringen. Die Zahl der Diagnosen schien fast so groß, wie die der Publikationen, von denen Georg Hannaeus’ Schrift: „Historische Beschreibung der Vieh-Seuche welche seit dem Jahre 1745 in den hiesigen Gegenden grassiret“ [http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN689258046] nur eine von vielen ist. Sie erschien 1746 in Hamburg beim Buchdrucker des Rates der Stadt Hamburg. Auch im 18. Jahrhundert nahmen also offensichtlich die Behörden und Obrigkeit medizinisches Fachwissen ernst. Allerdings waren Mediziner nicht die einzigen, die damals Einfluss auf staatliche Entscheidungen hatten. Wie heute, gab es soziale, wirtschaftliche und politische Umstände, die auch anderen Akteur*innen Handlungsspielräume und Einfluss möglich machte, ja diesen sogar hervorriefen. [https://hcommons.org/deposits/item/hc:29087/]
Wie andere Autoren äußerste sich Hannaeus kreativ, wenn es galt, Humoralpathologie, Miasma-Konzepte und Kontagionismus zu verbinden. Für die Geschichte von Krankheitskonzepten sind die in den Viehseuchenschriften zu findende Verwendung der Begriffe „Contagion” einerseits und „Miasma” andererseits sowie die dahinter stehenden Weltbilder sehr interessant. Die neuere medizinhistorische Forschung geht von einer Vereinbarkeit dieser beiden Konzepte im frühneuzeitlichen medizinischen Diskurs aus. Lediglich der Kontext und die Bevorzugung gewisser Maßnahmen gab die Popularität des einen oder die Ablehnung des anderen vor. Meist jedoch wurden beide Konzepte komplementär verwendet. Mit dem „Contagions“-Begriff wurde vor allem die Seuchenentstehung und die direkte Ansteckung der Tiere begründet. Der „Miasma“-Begriff wurde zusätzlich verwendet, wenn es darum ging, die Ausbreitung der Seuche über weitere Strecken zu erklären. Hannaeus verküpfte die Konzepte ebenfalls auf eine spezifische Art und Weise, die besonders interessant für den Kraftbegriff und seine Verwendung ist. Er bezeichnet die Seuche nämlich als Gift und schrieb: „So wie man nun den aus den Cörpern gehenden Gift-Dunst Miasma nennet, so pfleget man auch die Wirckung desselben Contagium zu heissen.“ (S. 41).
Als er dann „die wahre Beschaffenheit dieses Wesens“ (des Giftes) erklärte, benutzte Hannaeus eine für die frühe Neuzeit typische Beschreibung für die Erklärung von Kräften. Diese selbst seien mit den Sinnen nicht zu begreifen, sondern könnten allein nur an ihren Wirkungen erkannt werden. Er benutzte hierfür eine Analogie, nämlich das Bierbrauen und die Wirkung der Hefe bei der Gärung. Die „Gift-Dünste“, die Miasmata brächten „in eine scharfe Gährung [] und durch diese Gährung bekommen sie die unendliche Kraft, sich zu vermehren.“ (S. 44).
Die wichtigste Maßnahme gegen die Seuchenausbreitung war die seit Jahrhunderten erprobte Quarantäne, inklusive Bewegungs- und vor allem Handelseinschränkungen. Eine medizinische oder pharmazeutische Hilfe gab es vor ersten Experimenten mit Vorformen des Impfens seit den 1760er Jahren nicht. Wie viele seiner Zeitgenossen, ließ deswegen auch der Hamburger Arzt Hannaeus seine Viehseuchenschrift von 1746 mit der Anrufung eines vermeintlich höheren Wesens enden. Er dankte dem christlichen Gott, der übrigens auch als erster Verursacher der Seuche galt, „für geleistete Gnade und verliehene Kräfte“ (S. 60).
Die feste Verankerung des Seuchengeschehens im christlichen Weltbild der frühneuzeitlichen Akteur*innen brachte auch die wenigen erhaltenen bildlichen Quellen zu den Rinderseuchen hervor, die sich üblicherweise auch im Repertoire der Bewältigungsstrategien anderer Krisen und Katastrophen finden. In den katholischen Ländern waren das vor allem die auch heute noch zahlreich erhaltenen Votivbilder. [https://www.peterlang.com/view/title/12707]
Im protestantischen Europa gab es leider nur vereinzelt erhaltene gedruckte Gebete, die mitunter Illustrationen aufwiesen.
Abb 1.: Ausschnitt aus „Boeren getroffen door runderpest, 1745“, Rijksmuseum Amsterdam.
Schließlich waren „Imaginarien der Kraft“ auch in den wenigen Heilversuchen jenseits von Gebeten wirksam. Dies verdankte sich dem „sympathetischen“ Denken im frühneuzeitlichen Medizinaldiskurs. Dementsprechend lassen sich Rezepte finden, die im Grenzbereich zwischen pharmazeutischen und „magischen“ Heilmitteln und -methoden zu verorten sind sowie auf frühe Ideen einer Immunisierung durch Impfung verweisen.
In den schleswig-holsteinischen Quellen findet sich ein Rezept vor dem der Tønderner Amtsphysicus Johann Christian Fabricius, der Vater eines der Hauptakteure meines derzeitigen Forschungsprojekts zu wissenschaftlichen Insektenkunde um 1800, berichtete. In seiner umfangreichen Rezeptsammlung findet sich auch eine erfolgserprobte Maßnahme aus Brügge. Man habe den Kopf des am stärksten erkrankten Tieres, nach dem es gestorben war, gekocht und „hernach dem andern Vieh von der Brühe zu trinken gegeben, wodurch das übrige kranke Vieh genesen. Man hat aber den Kopf ganz klein gehauen damit die Kraft desto mehr heraus kommen mögte.“ (Landesarchiv Schleswig, Abt. 161, Nr. 158 [10]). In einem anderen Landesteil schienen die Bauern aber keinen Erfolg mit dieser Methode gehabt zu haben. So schrieb Hans Dircks aus Sieversfleth in der Landschaft Eiderstedt an einen Oberbeamten der Landschaft:
„Es steht sehr schlecht mit meinem Vieh, Herr Pfennigmeister. Nicklaus Martens vom Staatshof gab mir den Rat: hab ein krank Kalb den Kopf abgehauen und ganz kurz gehakt, in den Braukessel gethan und gekocht – und allen andern davon eingegeben. Aber es hilft gar nichts.“ (Kreisarchiv Nordfriesland, A2 Kirchspiel Tetenbüll, Nr. 95). Am Schluss seines Briefes versuchte Dircks, an das Mitleid der Obrigkeiten zu appellieren: „Es hat doch keine Art, meine lieben Herren, das kostet so viele Tränen, ich wollt, daß sie man alle tot wären, weil man leider so viel Herzeleid an das arme Vieh sehen muß, daß einem das Herz im Leibe brechen wollte.“
Wirksam oder unwirksam, Kräfte und Vorstellungen über deren Wirkungen spielten eine wichtige Rolle bei der praktischen, emotionalen und obrigkeitlichen Bewältigung der Rinderseuchen im 18. Jahrhundert. Der historische Rückblick, legt den enormen Einfluss zeitgenössischer Weltbilder und Handlungsrepertoires für die Wahrnehmungen und die Bewältigungsstrategien der historischen Akteuer*innen - Individuen wie auch Institutionen - frei. Für eine Einordnung der derzeitigen Diskussionen um Covid-19 und das medizinische, staatliche und individuelle Handeln in der Pandemie, kann ein historisch informierter, aber sich der Grenzen der Vergleichbarkeit bewusster Blick, durchaus anregend sein. [https://historyofknowledge.net/2020/03/23/viral-hive-knowledge-twitter-historians-and-coronavirus-covid-19/]
Abb 1.: Ausschnitt aus „Boeren getroffen door runderpest, 1745“, Rijksmuseum Amsterdam [http://hdl.handle.net/10934/RM0001.COLLECT.479868]
Laura Isengard, M.A.: Infektiöse Poetik – Adalbert Stifters Katastrophenerzählung Granit (1853) als Heilmittel und Initiation des Erzählens
Adalbert Stifters 1848 erstmals unter dem Titel Die Pechbrenner und 1853 für die Publikation in der Erzählsammlung Bunte Steine überarbeitete Erzählung Granit handelt von einem Paradigma, das lange Zeit den sozialhygienischen wie medizinischen Diskurs dominierte: Die repulsive Kraft ansteckender Krankheiten und dem darauf basierenden Versuch einer Pechbrennerfamilie, durch Flucht an einen immunen Ort einer Ansteckung mit der Pest zu entkommen. Das Unterfangen jedoch scheitert – auch der vermeintlich vor Infektion sichere Raum der höher gelegenen Wälder vermag der Familie keinen Schutz zu bieten. Einzig der Sohn der Familie überlebt, begegnet in dem Wald einem pestinfizierten Mädchen und pflegt dieses gesund. Die Erzählung belohnt dessen Inversion einer Kontaktvermeidung mit der Krankheit schließlich mit einer märchenhaften Schlusswendung: Jahre später kommt es zur Wiederbegegnung der beiden, sie heiraten und der Pechbrennersohn zieht zu dem reichen Mädchen auf das familiäre Schloss. Erzählt wird das Ganze retrospektiv von einem Ich-Erzähler, der ein Erlebnis in seiner Kindheit vergegenwärtigt: Auf einem Granitblock vor dem elterlichen Haus sitzend bestreicht ihm der vorbeifahrende Pechbrenner mit Wagenschmiere die Füße, der Junge trägt die Pechspuren anschließend in die frisch gescheuerte Stube und wird zur Strafe von der Mutter körperlich hart gezüchtigt. Es ist schließlich der Großvater, der sich dem durch die Strafe „gleichsam vernichtet[en]“[1] Enkel annimmt und ihn im Zuge einer Wanderung durch die heimatlichen Wälder die Pestfabel erzählt. Es sind trost-, ja heilsame Worte, denn wie der Pechbrennersohn in der großväterlichen Erzählung nicht nur mit dem Leben, sondern gleichsam mit der Märchenheirat belohnt wird, so erweist sich auch für den Erzähler der Rahmennarration der Kontakt mit der (erzählten) Krankheit als Heilmittel: Am Ende des Tages erfolgt die mütterliche Vergebung und der beseelte Schlummer – Jahre später schließlich vermag er das wundersame großväterliche Märchen vom Pechbrennersohn noch immer detailgetreu wiederzugeben, wohingegen die schmerzhaften Erinnerung an die eigenen gleichsam getilgt sind.[2]
Stifters infektiöses Erzählen gewinnt an Prägnanz insbesondere durch den prominenten Paratext, den die Erzählung aufruft: Giovanni Boccaccios Il Decamerone (1349–1353). Wird dort die Flucht einer Gesellschaft aus sieben jungen Damen und drei Jungen Herren vor der Pest auf ein Landgut zum Initiationsereignis der ersten abendländischen Novellensammlung – zehn Tagen verbringt die neu formierte Gesellschaft in der ländlichen Quarantäne und vertreibt sich dort die Zeit mit dem Erzählen von zehn mal zehn Geschichten – so invertiert Stifter das Paradigma eines erfolgreichen räumlichen Rückzugs vor der Infektion: Es ist gerade die Berührung mit der Krankheit, die nicht nur das Leben des Jungen in der großväterlichen Erzählung erhält, sondern dieses nachhaltig verbessert. Die repulsive Kraft der Krankheit, die sich als Akt der Grenzziehung zwischen vermeintlich infektiösen und immunen Orten und Menschen manifestiert, wird bei Stifter übersetzt in eine erzählte wie erzähltechnische Transgression strikter Ordnungsmuster. Dabei ergreift die Ansteckungsgefahr als Extremfall einer Destabilisierung von Grenzen jeglicher Art nicht nur das innerdiegetische Personal, sondern gleichsam die Erzählung selbst:[3] Die Gleichsetzung von dem vernichtendem Pech an den Füßen des Jungen und erzählter Pest sowie auffällige Motivdopplungen auf beiden Erzählebenen bedingen eine komplexe performative Durchdringung von Rahmen- und Binnennarration.[4] Doch wie der Kontakt mit der Krankheit das Leben des Pechbrennersohns final im Modus des Märchens aufgehen lässt, so wirkt die großväterliche Erzählung für den Enkel der Rahmennarration nicht nur als heilsames Gegengift zu der traumatischen Züchtigung, sondern in nicht weniger märchenhaftem Ton – „wie es auch seltsame Dinge in der Welt gibt“[5], so resümiert der nun erwachsene Ich-Erzähler am Ende von Granit – erweist sich die erzählte Katastrophe schlussendlich als Initiationsereignis des Erzählens selbst: „[D]ie Erzählung des Großvaters weiß ich, ja durch lange Jahre“[6]. Wie in Boccaccios Decamerone wird die Seuche bei Stifter zum Ausgangspunkt des Narrativen; Initiation des Erzählens ist hier jedoch nicht mehr das Paradigma einer erfolgreichen Flucht vor der Krankheit, einzig die Infragestellung und Transgression etablierter Grenzen vermag diesen Prozess in Gang zu setzen. Der Granit als Stein, auf dem der Ich-Erzähler einst die Pech- und Pestspuren empfing, ist es schließlich auch, der am Beginn von Stifters Novellensammlung steht – als Stein, der die Bunte Steine zuallererst ins Rollen bringt. Die Topik des Viralen folglich erweist sich nicht einzig als Stimulus repulsiver Kräfte, sondern indem sie Grenzen überschreitet, stellt sie etablierte Ordnungsmuster infrage – dort jedoch, wo Ordnungen zusammenbrechen, ist immer auch Raum für Neues, das im Medium der Erzählung nicht nur inhaltlich imaginiert, sondern auch ästhetisch vollzogen wird.[7]
Dass die Wochenzeitung Die Zeit denn ebenfalls in Anlehnung an Boccaccios Novellensammlung aus Anlass der Corona-Pandemie „Das Dekameron-Projekt“ initiiert, in dem zeitgenössische deutschsprachige Autoren wie Eva Menasse, Ingo Schulze oder Leif Randt kurze fiktionale Texte publizieren, „die um die großen Dinge des Lebens kreisen“[8], zeugt noch heute von der ästhetischen Potenz, die immer genau dort entsteht, wo Grenzen infrage gestellt und etablierte Ordnungen aufs Neue verhandelt werden (müssen).
[1] Stifter, Adalbert: Granit, in: ders.: Bunte Steine, Stuttgart: Reclam 2016, S. 19–56, hier: S. 23.
[2] Vgl. zu dem Erzählen als Mittel der Heilung insb. die stringente und erhellende Lektüre Christian Begemanns von Granit als erzählter Impfung, auf die hier maßgeblich Bezug genommen wird: Begemann, Christian: Katastrophenimpfung und Gedächtnisraum. Zu Stifters ‚Granit‘, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 40 (2015), S. 390–419.
[3] Vgl. Prutti, Brigitte: Zwischen Ansteckung und Auslöschung. Zur Seuchenerzählung bei Stifter — Die Pechbrenner versus Granit, in: Oxford German Studies, 37/1 (2008), S. 49–73.
[4] Vgl.:Strowick, Elisabeth: Sprechende Körper – Poetik der Ansteckung. Performativa in Literatur und Rhetorik, München: Fink 2009, S. 200f. Strowick spricht in Hinblick auf Stifters Granit-Erzählung von einer Poetik des Unreinen, insofern sich hier „Erzähl- und Ansteckungsraum überlagern“ und damit die für die Novelle konstitutiven intakten Rahmenverhältnisse verletzt werden: ebd., S. 203.
[5] Stifter: Granit, S. 56.
[6] Ebd.
[7] Vgl. zum Viralen als Topos der Revision etablierter Ordnungsmuster in Kunst und Gesellschaft: Meyer, Ruth / Weingart, Brigitte: Viren zirkulieren. Eine Einleitung, in: dies.: (Hg.) Virus! Mutationen einer Metapher, Bielefeld: transcript 2004, S. 7–42, hier: S. 8.
[8] Die Zeit, 14 (2020), S. 64.
Philipp Müller, M.A. und Franca Buss, M.A.: Ansteckende Bilder. Visuelles Angstmanagement in der aktuellen Berichterstattung zu Covid-19
„Wir sind im Krieg“. Angesichts der pandemischen Bedrohung durch das neuartige Corona-Virus Covid-19 haben zuletzt vor allem männliche Politiker aus militärstolzen Staaten martialische Bilder aufgerufen, um sich als potente politische Akteure im Kampf gegen das Virus zu profilieren und sich als affekteinsammelnde Identifikationsfiguren für eine Strategie moralischer und sozialer Entschlossenheit und Geschlossenheit zu bewerben.[i]
Damit bieten sie zwar Nährboden für allerhand Verschwörungstheorien, doch greifen sie auch die Sorgen vieler Menschen auf, die sich durch die soziale Isolation, die Trennung von ihrer Familie und die Angst, beim Gang vor die Tür lebensbedrohlichen Kontakten ausgesetzt sein zu können, an Krieg erinnert fühlen. Gleichwohl erscheint die Anwendung von Kriegsmetaphern ethisch fragwürdig, sobald deren Affektstärke zu aufmerksamkeitsökonomischen Zwecken genutzt wird.
Frank Walter Steinmeier kritisierte, wie viele andere, diese Kriegsvergleiche am 11.04.20 in seiner Osteransprache: „Nein, die Pandemie ist kein Krieg. Nationen stehen nicht gegen Nationen.“ Und dennoch schimmert auch ein ernstzunehmendes und erkenntnisreiches Scheitern im Benutzen von Kriegsmetaphern auf, das – nicht nur im Sinne reizökonomisch und wirtschaftlich kalkulierter Instrumentalisierung – das verzweifelte Bedürfnis nach der Vereinfachung einer für viele unbekannten Alltagssituation heraushebt, die von bedrohlich vielen Ungewissheiten gezeichnet ist. So liefert Steinmeier selbst gleichsam die Grundlage der Kriegsmetaphorik mit: „Und für uns alle die bohrende Ungewissheit: Wie wird es weitergehen?“
Vielfach versucht man die faktischen Ungewissheiten auf Affektebene reduktionslogisch einzuhegen, den ‚Krieg‘ so symmetrisch wie möglich zu skizzieren, indem man das Virus als Gegner markiert. Wegen des Unsichtbarkeitsparadigmas des viralen Krankheitserregers und seiner Übertragungswege kann man sich indes nur auf einen „unsichtbaren Feind“ berufen. Soll die Figur des unsichtbaren Feindes in globalem Umfang gesellschaftlich mobilisieren, um alle gegen das Virus – in welcher Form auch immer – ‚in Stellung zu bringen‘, indem es als Feind und damit als bekämpfbar präsentiert wird, so reproduziert und erzeugt doch die Unsichtbarkeit des „Feindes“ intensive Ängste, die das Virus als überlegen, nicht erkennbar, nicht aufhaltbar markieren, den Kampf also wieder asymmetrisch machen und den politischen sowie journalistischen Umgang mit dem Virus in die Nähe von Terror und Terrorberichterstattung rücken.
Bereits Anfang der 1990er-Jahre vermutete Jean Baudrillard in seinem Essay Transparenz des Bösen, dass hoch infektiöse organische Strukturen, Wirtschaftskrisen, „elektronische Viren und Terrorismus irgendwie miteinander verwandt“[ii] seien. Nach 9/11 wiederholte er schlagsatzartig seine These in Bezug auf den Massenmord in New York: „Der Terrorismus ist überall, wie die Viren.“[iii] Fast erwartbar erreichten uns, als in New York die Todesrate drastisch anstieg, auch die ersten eskalationslogischen Vergleiche zu 9/11 – der Krieg gegen das Virus meint den Kampf gegen den Terror des unsichtbaren Feindes. Ein Virus wird als Gefahr gesehen, die, ebenso wie Terror, als ubiquitär wahrgenommen und dafür gefürchtet wird. Im Alltag sind Viren und Terrorakte als schwelende Bedrohung latent präsent, weil sie selten oder nie schon sichtbar werden bevor sie zur akuten Gefahr umschlagen. Durch die meist fehlende Sichtbarkeit im Sinne einer präventiven Erkennbarkeit von Virus oder böser Gesinnung anhand äußerer Merkmale der Menschen wird viel Imaginationsraum für Schreckensszenarien frei – nicht nur im Sinne von drastischen Bildern der Folgen von Krankheit oder Gewalt. Auch soziale Kontrollphantasien erhalten Wirkungsraum, was zu gesellschaftlicher Polarisierung, auch mit rassistischen Tendenzen, führen kann, indem jede Person binär codiert und als ‚fremd‘ markiert wird: Alle sind Gefährder oder Gefährdete; alle kontrollieren alle.
„Wir wollen keine ängstliche, keine misstrauische Gesellschaft werden.“, so Steinmeier. Doch Angst trägt gesellschaftlich durchaus wichtige Funktionen. Diese zeichnet sich aber, und das meinte Steinmeier wohl damit, dass sie das „Beste und Schlechteste in uns hervorbringe“, durch eine Ambivalenz aus: Angst äußert sich affektiv in Panik und kann als Ordnungszerstörerin auftreten. Ebenso kann sie aber auch zu gesellschaftlicher Solidarisierung aufrufen, kurz: Angst kann affektive Kurzschlussreaktionen forcieren, wenn sie den Menschen zu nah zu kommen scheint und sie kann auch ein vernünftiges Handeln im Umgang mit ihr fördern, das auf reflexive Distanz setzt.
Gerade die Unsichtbarkeit des Virus aber erschwert reflexive Distanz und steigert die negativen Effekte informationeller Ungewissheiten. Hinzu kommt, dass auch unser vernünftiges Handeln in Form der Isolierung als Eindämmungsmaßnahme eine längere ‚Inkubationszeit‘ hat: Ob die Infektionszahlen sinken, wird erst längere Zeit nach unserem Handeln sichtbar. Diese informationellen Ungewissheiten und Sichtbarkeitslücken enthalten enorme imaginäre Spannung, die sich affektiv entlädt. In diese Lücken tritt die Angst in ihrer Ambivalenz zwischen Panik und Vorsicht. Das bedeutet auch, dass die körperliche Bedrohung durch das Virus nur eine von mehreren Ansteckungsängsten ist. Nichts, so wird vielerorts betont, sei ansteckender als die Angst selbst. Diese Perspektive stellt verstärkt die Einsatz- und Wirkungsmöglichkeiten von affektstarken Bildern ins Zentrum eines öffentlich praktizierten Angstmanagements. Bilder fungieren als Übertragungsmedien der Angst: mit affektivem Ansteckungspotenzial, das aber immer auch die Aussicht auf Immunisierung im Sinne einer rationalen Distanzierung impliziert. Ein Begehren nach dem Affekt in Wort und Bild koinzidiert auch in der Pandemieberichterstattung „mit einer Krise gesellschafts- und kommunikationstheoretischer Modelle, die in erster Linie auf die Verständigungsleistungen eines vernunftgeleiteten Diskurses“[iv] angewiesen sind.
Bilder im Kontext der Covid-19-Pandemie reproduzieren aber nicht bloß Ängste, sondern besitzen auch das Potenzial der Angsteinzäunung im Sinne eines „vernunftgeleiteten Diskurses“, indem sie dem „unsichtbaren Feind“ erkennbare Gesichter zu geben versuchen. Auffällig sind die zahlreichen Fotografien nahezu restlos menschenleerer öffentlicher Plätze, deren bildhafte Außenwirkung für gewöhnlich gerade darin besteht, mit Menschen gefüllt und Symbole der Lebhaftigkeit zu sein. Nun erscheint die sichtbare Leere als Visualisierung eines Effektes des „unsichtbaren Feindes“, der alles Leben aus der Öffentlichkeit vertreibt und erinnert immer wieder an den Ausnahmezustand: Affektsteigerung. Zugleich bedeutet das Bild der Leere, dass Menschen die vorgegebenen Maßnahmen einhalten, die Vernunftappelle aufnehmen und verantwortungsvoll handeln: Ratio.
Abb. 1: Kaum besuchte Kaaba, Mekka, Fotografie, 2020.
Abb. 2: Papst Franziskus vor dem leeren Petersplatz, Rom, Fotografie, 2020.
Abb. 3: Leerer Times Square, New York, Fotografie 2020.
Abb. 4: Geschlossener Louvre, Paris, Fotografie, 2020.
Gerade die Sichtbarkeit der Absenz von Dingen und Personen in öffentlichen Räumen kann visuelles Signal sowohl vernünftigen Handelns sein als dass sich an ihr auch Angstpotenzial entzündet. Dies zeigt sich auch an Bildern voraussichtigen Handelns und vernünftiger Vorkehrungen, besieht man sich die zahlreichen Fotos von Hallen, die zu Lazaretten umfunktioniert wurden und noch lauter leere Betten vorzeigen. Bilder des Vorbereitet-Seins durchfährt zugleich panische Angst, weil die Leere der Betten in Wirkungseinheit mit der affektiven Potenzialität des Bildes selbst vermittelt, dass sie noch gefüllt werden. Vor allem Fotos mit Feldbetten sind nicht um ihre Kriegssymbolik zu bringen – sie mutieren zu Anzeigern eines imaginativ vollendeten Futurs. Die Leere der Betten ist dabei sowohl räumlich als auch zeitlich und akustisch zu verstehen, wenn durch sie ein stilles Warten als reizökonomischer Multiplikator evoziert wird.
Je gewichtiger die Angst für den Umgang mit dem Virus wird, desto wichtiger wird auch ihre öffentlich geführte Diskussion als Form eines (mit)geteilten Angstmanagements, das die Ambivalenz der Angst über bestimmte Bilder in Kombination mit den Überschriften mehr oder weniger auszubalancieren versucht: zwischen der Erfüllung von Affektbedürfnissen, wenn sich die Leute in ihren Ängsten ernstgenommen wissen möchten und der gleichzeitigen Förderung rationalen Denkens und Handelns.
„Niemand ist immun gegen Bilder“. Das ist auch potentiell produktiv, doch ist es wichtig, „wie wir uns fürchten.“[v] Hierin liegt die publizistische, individuell-private und auch wissenschaftliche Herausforderung. Wie nah lassen wir bestimmte Bilder an uns heran bzw. wie weit können oder wollen wir uns von ihnen distanzieren? Die im kommenden Aufsatz besprochenen Bilder werden selbst Kriterien des Viralen erfüllen, insofern sie auf uns vergleichbar ambivalente Wirkungen – Kathrin Buschs Begriff der „ästhetischen Ansteckung“[vi] aufnehmend – erzielen können wie die ansteckende Angst. Die Unsichtbarkeit des Virus und seiner Übertragungswege meint wirkungsästhetisch wiederum die affektiven Unmittelbarkeitseffekte von Bildern im Virus-Kontext des Virus bzw. das Untergraben und Herausfordern der Reflexion dieser unmittelbar erscheinenden Affizierungsprozesse. Mit dem Erkennen der einander korrespondierenden Ambivalenzen der Angst und der Bildwirkungen in Bezug auf ein visuelles Angstmanagement kann in der Covid-19-Berichterstattung auf die epistemischen Kräfte ansteckender ‚Virus‘-Bilder rückgeschlossen werden. Wenn Bilder von affektiver Infektionskraft ernstzunehmende Faktoren im öffentlich diskutierten und persönlichen Angstmanagement sind, dann wirken sie sich auf das Verhalten der Menschen in ihrem Alltag aus, was wiederum Einfluss nehmen kann auf die tatsächlichen Verbreitungsmechanismen des Virus.
[i] Zur Historizität der Kriegsmetaphern in der Mikrobiologie vgl. Brigitte Weingart: Viren visualisieren. Bildgebung und Popularisierung, in: dies. und Ruth Mayer (Hg.): VIRUS! Mutationen einer Metapher, Bielefeld 2004, S. 97-130.
[ii] Jean Baudrillard: Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, Berlin: Merve 1992, S. 45.
[iii] Jean Baudrillard, L’esprit du terrorisme, in: Le Monde vom 2.11.2001: »Le terrorisme, comme les virus, est partout.« Zitiert in: Ruth Mayer und Brigitte Weingart: Einleitung, S. 24. In: dies. (Hg.): Virus. Mutationen einer Metapher, Bielefeld 2004, S. 7-43.
[iv] Marie-Luise Angerer: »Affekt und Begehren oder: was macht den Affekt so begehrenswert«, in: e-Journal Philosophie der Psychologie, www.jp.philo.at/texte/AngererM1.pdf (13.02.2006), S. 1.
[v] https://www.zeit.de/kultur/film/2020-02/epidemien-angst-coronavirus-outbreak-contagion (Zugriff am 14.04.20).
[vi] Kathrin Busch: „Ansteckung und Widerfahrnis. Für eine Ästhetik des Pathischen“, S. 54. In: dies. und Iris Därmann (Hg.): »pathos«. Konturen eines kulturwissenschaftlichen Grundbegriffs, Bielefeld 2007, S. 51-73.
Abb. 1: Yasser Bakhsh, Kaum besuchte Kaaba, Mekka, Fotografie, 2020, publiziert in: Leere, Zeit.de, 12.03.20. (https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-03/geisterorte-weltweit-coronavirus-covid-19-fs, Zugriff am 22.04.20).
Abb. 2: Papst Franziskus vor dem leeren Petersplatz, Rom, Fotografie, 2020, publiziert in: Oliver Schmitt: Hoch auf dem Einkaufswagen, Spiegel Online, 22.03.20. (https://www.spiegel.de/panorama/coronavirus-bilder-einer-woche-a-6b4381f5-fde1-4c5a-8590-ee04134f3505, Zugriff am 22.04.20).
Abb. 3: Vanessa Carvalho, Leerer Times Square, New York, Fotografie, 2020, publiziert in: Marc Pitzke: New York wird zur Geisterstadt, Spiegel Online, 17.03.20. (https://www.spiegel.de/politik/ausland/corona-krise-macht-new-york-city-zur-geisterstadt-a-020958fd-f207-4d8c-8005-023fe3c69a87, Zugriff am 22.04.20)
Abb. 4: Geschlossener Louvre, Fotografie, 2020, publiziert in: So leer sind die Städte in der Corona-Krise, faz.de, 15.03.20. (https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/so-leer-sind-weltweit-hauptstaedte-wegen-coronavirus-krise-16679997/lust-auf-einen-sonntagsausflug-16680012.html, Zugriff am 22.04.20)
Hinweis: Diese Ideenskizze entwickelt sich gerade zu einem Aufsatz, indem die hier angeführten und weitere Bildbeispiele ausführlicher auf ihre ambivalenten Affizierungskräfte und Funktionen innerhalb eines visuellen Angstmanagements in der Corona-Berichterstattung überprüft werden. Der angefertigte Text wird in den nächsten Wochen online im Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung erscheinen: https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/
Dr. des. Adrian Renner: Immunes Erzählen – Thomas Manns „Der Tod in Venedig“
„Die Beobachtungen und Begegnisse des Einsam-Stummen sind zugleich verschwommener und eindringlicher, als die des Geselligen, seine Gedanken schwerer, wunderlicher und nie ohne einen Anflug von Traurigkeit. Bilder und Wahrnehmungen, die mit einem Blick, einem Lachen, einem Urteilsaustausch leichthin abzutun, beschäftigen ihn über Gebühr, vertiefen sich im Schweigen, werden bedeutsam, Erlebnis, Abenteuer, Gefühl. Einsamkeit zeitigt das Originale, das gewagt und befremdend Schöne, das Gedicht. Einsamkeit zeitigt aber auch das Verkehrte, das Unverhältnismäßige, das Absurde und Unerlaubte“.[1]
Diese Bemerkung des Erzählers von Thomas Manns Der Tod in Venedig stellt dem einsam gesprochenen Gedicht implizit die soziale und kommunikative Dimension des Erzählens entgegen. Es ist diese Funktion des Erzählens, die von Boccaccios Decamerone bis zu Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten in Krisensituationen beschworen wird. Das Erzählen stiftet in der Zeit krisenhafter Verwerfungen gesellschaftliche Bindungen und soziale Kohäsion – so wird es in Erzählungen selbst erzählt. Das Gedicht hingegen, so entwirft es Manns kleine Gattungsanthropologie im Tod in Venedig, beruht auf sozialer Vereinzelung und monologischem Sprechen. Im Kontext von Manns 1911 entstandener Erzählung heißt dies: Es steht der Krankheit näher als dem Leben.
Der Tod in Venedig führt eine imaginäre Liebesbeziehung mit einem Infektionsgeschehen parallel: Gustav Aschenbach, in München lebender Romancier, reist zum Erholungsurlaub nach Venedig. Dort verliebt sich Aschenbach in den russischen Knaben Tadzio und entwickelt parallel Krankheitssymptome, Fieber- und Schwächeanfälle, die er dem warmen Klima zurechnet. Gleichzeitig beginnen in der Stadt Desinfektionsmaßnahmen, ein „fauliger Geruch“ (S. 533) liegt in der Luft. Aschenbach versucht Erkundungen einzuziehen und erfährt aus einem englischen Reisebüro, dass es in der Stadt zum Ausbruch der „indischen Cholera“ (S. 578) gekommen sei. Aschenbach verzichtet auf die Abreise, um in der Nähe Tadzios bleiben zu können. Er bricht am Lido, Tadzio vor Augen zusammen, und stirbt.
Im Tod in Venedig verbleibt der Ausbruch der Cholera zunächst diffus und unspezifisch. Aschenbach kündigt sie sich zuerst durch einen „süßlichen-offizinellen Geruch, der an Elend und Wunden und verdächtige Reinlichkeit erinnerte“ (S. 563) an. Als sich Erkrankungen und Todesfälle mehren, vermeint Aschenbach, den „Geruch der erkrankten Stadt“ (S. 565) zu vernehmen. Manns Betonung des die Krankheit indizierenden Geruchs macht Ansteckung zum imaginären Prozess. Evoziert werden die durch die Entdeckung des Cholera-Bakteriums endgültig widerlegten Miasma-Theorien. Evoziert wird aber auch das koloniale Verständnis der Cholera als Tropenkrankheit, die sich in Venedigs „feuchter, dicker und von Fäulnisdünsten erfüllter Luft“ (586) widerspiegelt.[2]
Die miasmatische Imagination der Cholera fügt sich ein in die überreiche Todessymbolik der Erzählung, die über mythologische Todesboten, Platons Phaidros bis zu Nietzsches Geburt der Tragödie reicht. Auch die Behandlung von Krankheit und Gesundheit in der Erzählung ist topisch: Aschenbach, der Reisen nur als „hygienische Maßregel“ (S. 505) kennt, erhofft sich durch seine Venedig-Reise eine Neubelebung seiner künstlerischen Schöpferkräfte. Diese sind nach dem Modell der Lebenskräfte des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts Resultat stimulierender Reize. Aschenbachs Regeneration seiner künstlerischen Schaffenskraft, am Anfang der Erzählung als „motus animi continuus“ (S. 501) verbildlicht, verweist auf die Unterscheidung von natürlichen und widernatürlichen Reizen, wie sie die physiologischen Lebenskraft-Modelle gegen Ende des 18. Jahrhunderts treffen. Die Stelle der widernatürlichen Reizquelle besetzt, gemäß der Logik der Erzählung, der russische Knabe. Aschenbachs Cholera-Infektion beruht auf einer affektiven, psychischen Übertragung und Kontamination, die entlang des ‚fauligen‘ Geruchs der Cholera als physiologischer Reiz modelliert wird.
Die Cholera-Infektion Aschenbachs wird im Tod in Venedig entlang physiologischer Kräftemodelle zum „körperhaft-geistigen Erlebnis“ (S. 582) stilisiert. Erkrankungen haben in Thomas Manns Großnarrativ der europäischen Kultur[3] (das sich in den Typhus-, Tuberkulose-, und Syphilis-Infektionen Hanno Buddenbrooks, Hans Castorps oder Adrian Leverkühns fortschreibt) selbst symptomatischen Charakter: Sie umfassen geistige und kulturelle Dispositionen wie die kulturell sedimentierte, lyrische Einsamkeit, in der Mann im Tod in Venedig Pathos und Pathologie engführt. Die Logik pathologischer Selbst-Affektion und damit auch: Selbst-Infektion, die die erkrankten Figuren Manns auszeichnet, widerstrebt jedoch nicht der immunisierenden Logik des Erzählens, wie sie das Decamerone auszeichnete. Immun gegenüber den Infektionsgeschichten der Figuren sind vor allem die Erzähler Thomas Manns,[4] die zwar vom Verhältnis von Einsamkeit und Lyrik fabulieren, sich aber darin versichern, selbst nicht Teil dessen zu sein, was sie beschreiben.
Es wird zu sehen sein, welche literarischen Behandlungen die Corona-Pandemie erfahren wird. (Ein erstes, allerdings in seiner Anlehnung an Sci-Fi-Mystik eher problematisches Beispiel findet sich hier: https://level.medium.com/city-of-pain-1f77a5eae1e9). Diese noch ausstehenden Erzählungen werden sich, so viel Spekulation sei erlaubt, gerade in den Fragen der physischen und sozialen Distanzierung, der Isolation und der Quarantäne, am literarischen Gespräch über die sozialen Formen und Funktionen des Erzählens beteiligen.
[1] Thomas Mann, „Der Tod in Venedig“, in: Ders.: Frühe Erzählungen 1893-1912, Frankfurt a.M. 2008, S. 528. Weitere Angaben nach dieser Ausgabe.
[2] Vgl. Amrita Ghosh, „The Horror of Contact: Understanding Cholera in Mann’s Death in Venice“, in: Transtext(es) Transcultures. Journal of Global Cultural Studies (12/2017). Issue: The Other’s Imagined Diseases. Transcultural Representations of Health. URL: https://journals.openedition.org/transtexts/779
[3] Vgl. etwa: Caroline Pross, Dekadenz. Studien zu einer großen Erzählung der frühen Moderne, Göttingen 2013, S. 243-260.
[4] Herausgearbeitet hat dies: Martin von Koppenfels, Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans, München 2007.