Konzept
Seit der griechischen Antike rekurrieren künstlerische, wissenschaftliche und soziopolitische Diskurse auf Konzepte der Kraft. Wie die Rede von Muskelkraft über die Kraft der Sprache oder der Bilder bis hin zur Gesetzeskraft zeigt, kommt kaum ein Feld der kulturellen Reflexion ohne den Bezug auf Kräfte im weitesten Sinne aus: Sie reichen von biologischen Vorstellungen – Zeugungskraft, Lebenskraft, Bildungskraft – oder religiösen bzw. magischen Vorstellungen einer Schöpfungskraft oder Zauberkraft, über menschliche Kräfte (vis animae, Triebkraft, Willenskraft), bis hin zu Kraftkonzepten im ökonomischen Bereich (Arbeitskraft, Produktivkraft, Kaufkraft). Im politischen Kontext ist von kratos, potentia, Macht, Herrschaft, Gewalt und charisma die Rede, während künstlerische Kräfte als Schaffenskraft, Einbildungskraft oder movere vorgestellt werden.Das Wort ›Kraft‹ als Übersetzung des griech. dynamis und lat. vis bzw. potentia bezeichnet zwar die Fähigkeit, Wirkungen auszuüben, Kräfte lassen sich aber selbst nicht wahrnehmen, sondern nur indirekt an ihren Wirkungen ablesen.
Hier setzen unsere Fragen an: Welche Darstellungsmodi, Metaphern und Narrative formieren Vorstellungen von Kräften? Wie werden Ausbildung und Wandel von Kraftkonzepten in den Künsten registriert, begleitet oder vorangetrieben? Und inwieweit bilden die Künste und die Reflexionen über sie einen privilegierten Ort der Auseinandersetzung mit den sinnlichen Präsenzeffekten der selbst unsinnlichen Kräfte? Die Fragestellung stellt bewusst eine Verbindung zwischen Kunst- bzw. Kulturwissenschaften und den Naturwissenschaften her.
Kraft stellt zwar einen Grundbegriff der Naturwissenschaften und eine Leitkategorie der Künste dar. Doch wurde der Begriff in der kultur- und kunstwissenschaftlichen Forschung noch kaum systematisch untersucht. Unser interdisziplinär geistes- und naturwissenschaftlich arbeitendes Forschungskolleg, das sich mit den Visualisierungen und Narrativierungen der Kraft als grundlegendes ästhetisches, wissenschaftliches und gesellschaftliches Konzept in seiner historischen und systematischen Auffächerung befasst, stellt daher ein Novum dar. Die Kolleg-Forschungsgruppe »Imaginarien der Kraft« geht den Vorstellungs- und Darstellungsmodi von ›Kraft‹ von der griechischen Antike bis in die Gegenwart nach, die von Versuchen der Formalisierung und Mathematisierung, über graphische Aufzeichnungssysteme, Modelle und Simulationen bis hin zu Bildern, Metaphern und Narrativen reichen.
Für die Fragestellungen der Kolleg-Forschungsgruppe soll jedoch nicht der gegenwärtig gebräuchlichere, eng auf die Physik bezogene Begriff der Energie erkenntnisleitend sein, sondern vielmehr der – seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der physikalischen Diskussion verabschiedete – Begriff der ›Kraft‹ und dessen Derivate. Dieser Fokus auf Kraftkonzepte garantiert eine ungleich größere historische und disziplinäre Reichweite: Historische Semantiken der Kraft eröffnen ein Feld, auf dem sich die Diskurse als besonders durchlässig erweisen und die Interferenzen zwischen Natur und Kultur exemplarisch beobachtbar werden.
Im Zentrum der intensiven Auseinandersetzung steht dabei die Geschichtlichkeit dieser Begriffe in den je unterschiedlichen disziplinären Fassungen. Besonderes Interesse gilt den Kontinuitäten und Transformationen von Konzepten, vor allem an Epochenumbrüchen und Übergängen. Die Frage nach den unterschiedlichen Darstellungsformen natürlicher oder sozialer bzw. kultureller Kräfte richtet sich gleichermaßen an Natur- Kultur, Kunst- und Literaturwissenschaftler*innen.
Die Kategorie der ›Imaginarien‹ trägt der Fluidität und Mobilität des Begriffs ›Kraft‹ Rechnung, der die unterschiedlichsten kulturellen und epistemischen Felder durchquert und verbindet: Zwischen Imago und Imaginärem, Bild und Phantasie angesiedelt, zielt die bewusst nicht begrifflich fixierte Rede von den Imaginarien auf die Untersuchung der Bild- und Vorstellungswelten, in denen sich Kraftkonzepte und Kräftelehren entfalten.
Der analytische Fokus auf die Medialität von Kräften prägt den gesamten Forschungskontext und begründet seine doppelte Fragerichtung: Zu untersuchen ist nicht nur, auf welche Weise naturwissenschaftliche Beschreibungen von Kräften modellbildend für Reflexionen über Kultur und die Künste sind und waren, sondern auch, welchen visuellen und sprachlichen Modellierungen naturwissenschaftliche Konzepte der Kraft ihrerseits aufruhen.
Am Begriff der Kraft lassen sich Transferprozesse zwischen Natur- und Geisteswissenschaften exemplarisch beobachten. Mit dem Forschungsansatz der »Imaginarien der Kraft« wird zum einen ein Grundbegriff der Kunsttheorie in seinen historischen und interdisziplinären Ausformungen bearbeitet und zum anderen ein methodischer Beitrag zum Verhältnis von Kunst- und Naturwissenschaften geleistet. Darüber hinaus ermöglicht dieser Zugang, auch die Aktualität medialer und technischer Kräfte in den Blick zu nehmen und deren gesellschaftspolitische Relevanz exemplarisch aufzuzeigen.