Konzept
Kaum ein Feld der kulturellen Reflexion kommt ohne Konzeptualisierungen von Kraft aus: Vorstellungen von religiösen oder magischen (Schöpfungskraft, Zauberkraft), menschlichen (vis animae, Triebkraft, Willenskraft), politischen (kratos, potestas, Macht, Herrschaft, charisma), physikalischen (Schwerkraft, Anziehungskraft, Energie), biologischen (Zeugungskraft, Lebenskraft, Bildungskraft), physiologischen (Muskelkraft, Wahrnehmungskraft) oder sozioökonomischen (Arbeitskraft, Kaufkraft) Kräften verweisen auf die Dominanz wie auch die Plastizität des Konzepts Kraft und seiner Derivate. Seit der antiken Poetik und Rhetorik, tradiert über die Kunst- und Dichtungslehren der frühen Neuzeit, reflektieren gerade die Künste ihr Leistungsprofil auffällig häufig im Rekurs auf Kräftelehren (Schaffenskraft, Einbildungskraft, movere). Umso erstaunlicher ist es, dass die Übergänge und Übernahmen zwischen natur-, kultur- und kunstwissenschaftlichen Verwendungen des Kraftbegriffs noch kaum systematisch untersucht worden sind. Hier setzt die DFG-Kollegforschungsgruppe »Imaginarien der Kraft« an: Wir bündeln vielfältige disziplinäre Zugänge zu Konzepten der Kraft und kraftaffiner Begriffe, um ihre Ausbildung und ihren Wandel in den Künsten zu erforschen. Unser Ziel ist es, Kraft als bislang unterschätzte Leitkategorie der Kunstreflexion zu profilieren und ihre historischen Entfaltungen, Kontinuitäten und Transformationen in den Künsten zu verfolgen.
Gemeinsam mit international ausgewiesenen Fellows aus verschiedenen Disziplinen haben die Antragstellenden der ersten Förderphase, Frank Fehrenbach (Kunstgeschichte), Matthias Glaubrecht (Biologie/Wissenschaftsgeschichte) und Cornelia Zumbusch (Germanistik) in der ersten Förderphase (2019-2023) nach den Darstellungsmodi gefragt, die sich historisch zur Erfassung der selbst nicht fassbaren Kräfte herausbilden. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass das Wort ›Kraft‹ (griech. dynamis, lat. potentia, vis) zwar die Fähigkeit bezeichnet, Wirkungen auszuüben, dass sich Kräfte selbst aber nicht wahrnehmen, sondern nur indirekt an ihren Wirkungen ablesen lassen. Die Künste und die Reflexionen über sie, so die leitende These, bilden einen privilegierten Ort der Auseinandersetzung mit den sinnlichen Präsenzeffekten unsinnlicher Kräfte, wobei durch diese Medialisierungen auch naturwissenschaftliche Konzepte Modifizierungen erfahren. Die Ergebnisse dieses fruchtbaren Dialogs zwischen Kunst-, Literatur- und Naturwissenschaften werden in der zweiten Förderphase (2023-2027) vom neuen Sprecher:innen-Team (Fehrenbach/Zumbusch) für die konzentrierte Erforschung ästhetischer Kräfte genutzt, um (1) ihre Affinität zu den nicht-quantifizierbaren Kräften des Numinosen, (2) ihr Verhältnis zu außereuropäischen Modellen der Kraft und (3) gegenwärtige gestalterische, künstlerische und literarische Auseinandersetzungen mit Praktiken der Energieerzeugung zu untersuchen.