Ästhetische Kraftbegriffe
Mit dem geplanten Handbuch tragen wir dem Umstand Rechnung, dass ›Kraft‹ als Begriff in kunsttheoretischen und ästhetischen Diskursen noch nicht lexikalisch erfasst ist. So führt etwa das mehrbändige Handbuch Ästhetische Grundbegriffe keinen Eintrag zur ›Kraft‹; der gleiche Befund ergibt sich beim Blick in das einschlägige Reallexikon der Literaturwissenschaft wie auch beispielsweise in Metzlers Lexikon Kunstwissenschaft.
Während die lange Geschichte des physikalischen Kraftbegriffs sehr gut erforscht ist und man in der Philosophie neuerdings wieder auf die turbulente Geschichte des metaphysischen Kraftbegriffs aufmerksam geworden ist, ist vergleichsweise wenig beachtet worden, dass Kraft seit der Antike auch eine Leitkategorie der Künste ist. Die lexikalische Lücke ist, davon gehen wir aus, dem Variationsreichtum und der Komplexität ästhetischer Kraftvorstellungen geschuldet. Seit der Antike ist Kraft (dynamis) ein Topos in Dichtungs- und Kunsttheorien, wobei sich in der Reflexion auf verschiedene künstlerische Praktiken und Medien mehrere Begriffstraditionen herausbilden. Platons Bestimmung des Enthusiasmus als einer göttlichen Kraft (dynamis) und seine Unterscheidung zwischen dynamis und techne wird in Renaissance und Früher Neuzeit als ingenium und ars weiter tradiert. In Inspirations- und Genielehren verschärft sich die Unterscheidung zwischen dem, was von Gott, den Musen oder von der Natur eingegeben wird, sowie dem, was Regeln unterliegt und entsprechend machbar und lernbar ist. Allerdings befassen sich die Künste in der Reflexion auf ihre Kräfte keineswegs nur mit dem, was die technische Seite künstlerischer Produktion betrifft oder gar übersteigt. Die energeia als Tätigkeit oder Wirksamkeit, die in der Rhetorik des Aristoteles die Wirkungsweise besonderer Metaphern erklären soll, verschmilzt in der spätantiken Rhetorik mit dem Ideal der Anschaulichkeit (enargeia) und bildet in der Kunsttheorie und Poetik der Frühen Neuzeit ein grundlegendes Referenzmodell für die Mobilisierung der Leidenschaften und der Einbildungskraft. Dabei kommt eine Vielfalt von Effekten zum Tragen, die von der lebensechten Täuschung und der emotionalen Überwältigung bis hin zur sinnlichen Überforderung reichen. Angeregt von Überlegungen zu intrinsischen Formbildungskräften in der Natur (vis formativa) werden Kräfte auch in Formtheorien relevant. Wenn der Terminus ›Kraft‹ in der philosophischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielt, dann laufen hier bereits weit verzweigte Traditionswege künstlerischer Kraftvorstellungen zusammen. Allerdings ist die Auffächerung kräftebezogener Aspekte kaum auf einen gemeinsamen konzeptuellen Nenner zu bringen. Wenn die Künste im Rekurs auf Termini der Kraft sowohl den Grund ihrer Entstehung, die Möglichkeiten der Gestaltung als auch die Reichweite ihrer Wirkungen behandeln können, dann ist wohl kaum von einer Kraft der Kunst zu sprechen.
Unsere Fragestellung ist somit keine systematische: Es geht uns weder um die Reaktualisierung von ›Kraft‹ als konzeptuellem Fundament einer die Künste übergreifenden Ästhetik noch um eine Theorie der Kreativität, der agentiellen Kunst oder um eine empirisch, etwa neuroästhetisch zu belegende Wirkmacht der Dichtung, der Bilder oder der Musik.
Unsere Fragestellung ist vielmehr eine historisch-hermeneutische. Ziel ist es, die historischen Kontinuitäten und Verschiebungen innerhalb ästhetischer Kraftvorstellungen verfolgen und ihre jeweiligen diskursiven Rahmungen zu rekonstruieren. Dazu gehören neben den Begriffen dynamis, energeia und Kraft auch davon abgeleitete Derivate, Kraftkomposita sowie angrenzende, aus Kraftreflexionen hervorgegangene Begriffe. Wir möchten auch die Chance nutzen, zentrale Kraftbegriffe nichteuropäischer Kulturen aufzunehmen und ihre ästhetische Valenz und Relevanz zu befragen. Dabei wird jeweils abzuwägen sein, wie sich künstlerische Praktiken und disziplininterne Begriffsdynamiken, die sich in der Rhetorik, Poetik, Kunsttheorie und Ästhetik verfolgen lassen, zu den Auseinandersetzungen und Paradigmenwechseln auf den Gebieten der Erkenntnistheorie, Naturphilosophie, Naturkunde und den sich ausdifferenzierenden Naturwissenschaften, aber auch zu theologischen, religiösen oder ethischen Programmen wie auch Praktiken verhalten.
Geplant sind u.a. Artikel zu: actus und potentia, Antagonismus, Atmosphäre, Ausdruck, (natürliche vs. widernatürliche) Bewegung, Bildungskraft, compositio, conatus / Streben / Drängen, Einbildungskraft, Eindruck, Elastizität / Formbarkeit, energeia / enargeia / evidentia, Energie, Enthusiasmus, Erhabenes, Ermüdung, Faszination, Formkraft / vis formativa, forza, Gewalt / violenza, Gleichgewicht / balance, Intensität, Impetus, Irritation, Ki, Kraftlinien, Latenz, Lebenskraft, raptus / Überwältigung, mana, Reibung, Reiz, Rührung, Schlag / Aufprall, Schock, Schwäche, Schwerkraft / Levitation, Spannung, Superkräfte, Telos / Entelechie, Trieb, Vehemenz, Vibration, virtus / facultas, vis, Wahrnehmungskraft, Widerstand.