Ankündigung: 23./24.02.2023 Workshop »Ambigue Objekte. Materialität der Kräfte und stoffliche Ökonomien in Kunst und Literatur zwischen 1880 und 1920«
26. Januar 2023
In seinen 100 Aphorismen (1915) erklärt Franz Marc: „Wir blicken durch die Materie, und der Tag wird nicht ferne sein, an dem wir durch ihre Schwingungsmasse hindurchgreifen werden wie durch Luft.“ Christoph Asendorf hat in seiner Studie Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900 gezeigt, wie Kräfte in Kunst und Literatur der Jahrhundertwende als immaterielle Energiewellen oder Kräfteflüsse in Analogie zu Radiowellen oder Röntgenstellen imaginiert werden. Entgegen solchen Tendenzen der Immaterialisierung um die Jahrhundertwende hat Monika Wagner die fundamentale Bedeutung von Materie und Stoffen als künstlerischem Material für die Kunst des 20. Jahrhunderts an Beispielen wie Farbe, Plastik, Erde, Sand, Gesteinen, Haaren, Fett, Blut, Fleisch, Müll, Kleidungsstoffen und dem „Körper als Material“ hervorgehoben. Der Workshop nimmt diese Beschreibungen zum Anlass, die Verhältnisse einer Perspektive auf Materie als (künstlerisches) Material und Tendenzen der Immaterialisierung um die Jahrhundertwende auszuloten und Verbindungen, Überschneidungen, aber auch Diskrepanzen zwischen Kräftedarstellungen und Konzeptionen von Materialität zwischen 1880 und 1920 zu befragen.
In Ludwig Büchners populärwissenschaftlicher Studie bilden Kraft und Stoff (1855) ein reziprokes Begriffspaar: keine Kraft ohne Stoff, keine Stoffe ohne Kräfte. Entgegen einer quantitativen Beschreibung von Kräften als thermodynamische Erhaltungs- und Verwandlungsgesetze verweisen stofflichen Kreisläufe und Ökonomien Ende des 19. Jahrhunderts oftmals auf eine numinose und ambigue Qualität von Kräften. Dingen und Objekten kommt durch ihre Teilhabe in menschlichen und nicht-menschlichen Kreisläufen und Ökonomien eine eigene Art von agency zu. Materielle Objekte wie etwa Paul Valerys objet ambigu, die nicht real oder symbolisch in eine universale energetische Zirkulation eingespeist werden können, wirken als materieller Widerstand und träge Masse. In Rilkes Dinggedichten scheinen Objekte aus sich selbst heraus mit ihrer Umgebung zu interagieren. Stoffe und Dinge unterlaufen in ihrer Materialität natürliche oder kulturelle Zuschreibungen und stehen auf der Grenze zwischen Leichtigkeit und Schwere, zwischen Aktivität und Passivität oder zwischen organischer Lebendigkeit und anorganischer Versteinerung.
Im Zeitalter der industriellen Explosion der Dinge werden die Unterschiede zwischen natürlichen und künstlichen Stoffen gleichermaßen aufgelöst wie neu hervorgehoben: Materialien wie Glas oder Stahl bilden neue, industriell hergestellte Werkstoffe. In lebensreformerischen Bewegungen werden ‚natürlichen‘ Elementen und Stoffen wie Wasser, Luft, Erde oder Licht eigene Kräfte zugeschrieben, die sich in der praktischen Interaktion mit dem menschlichen Körper offenbaren. Die Materialität und Stofflichkeit des Körpers manifestiert sich in expressionistischen Strömungen als Schmerz, Leid, brutale Deformation oder enthemmte Entgrenzung von Kräften. Ziel des Workshops ist es, die teils konvergierenden, teils auseinandertretenden Kreisläufe und Austauschprozesse von stofflicher Materialität und sich materialisierenden Kräften in Kunst und Literatur der (ästhetischen) Moderne herauszuarbeiten und einzelnen Beispielen und Fallstudien zu konkretisieren.
Workshop »Ambigue Objekte. Materialität der Kräfte und stoffliche Ökonomien in Kunst und Literatur zwischen 1880 und 1920«
Veranstaltungsdatum: 23. Februar 2023, 13:30–19.00 Uhr /
24. Februar 2023, 10:00–15.00 Uhr
Veranstaltungsort: Gorch-Fock-Wall 3, 20354 Hamburg
Konzeption und Kontakt: adrian.renner@uni-hamburg.de