Katharina Lee Chichester, M.A.
Foto: Barbara Dietl
Vita
Katharina Lee Chichester studierte Kunst- und Bildgeschichte und Biologie an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie am Bard Graduate Center in New York. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Bedeutung gestalterischer Episteme und verkörpertem Wissen in den Naturwissenschaften und Künsten der Frühneuzeit und Moderne. Von 2014 bis 2017 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Exzellenzcluster „Bild Wissen Gestaltung“ der Humboldt-Universität zu Berlin. Dort hat sie als Mitglied des Basisprojekt „Bildakt und Körperwissen“ gewirkt, wie auch als wissenschaftliche Assistentin von Prof. Dr. Horst Bredekamp und als kuratorische Assistentin von Dr. Nikola Doll in Vorbereitung der Ausstellung +ultra. gestaltung schafft wissen (Martin-Gropius-Bau Berlin). Seit 2017 arbeitet sie an einer Dissertation über gestalterische Forschung in der organizistischen Biologie um 1900 bis 1960, ausgehend von D’Arcy W. Thompsons Buch On Growth and Form. Ihr Promotionsprojekt, betreut von Prof. Dr. Horst Bredekamp und Prof. Dr. Anke te Heesen, wurde durch ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes und durch ein Fellowship der University of St. Andrews unterstützt . Im Wintersemester 2018 unterrichtete sie, gefördert durch das Mathilde-Planck-Lehrauftragsprogramm, an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Sie ist Gründungsmitglied des DFG-Netzwerks „Wege – Methoden – Kritiken: Kunsthistorikerinnen 1880–1970“ sowie der gleichnamigen AG am Ulmer Verein. Zuletzt kuratierte sie die Ausstellung August Gaul. Moderne Tiere am Kunstmuseum Bern. Seit 2014 ist sie Redakteurin des kunsthistorischen Netzwerks ArtHist.net.
Publikationen (Auswahl)
- August Gaul: Moderne Tiere, Ausstellungskatalog, Kunstmuseum Bern, hg. v. K. Lee Chichester und Nina Zimmer, München: Hirmer, 2021.
- Kunsthistorikerinnen 1910–1980. Theorien, Methoden, Kritiken, hg. v. K. Lee Chichester und Brigitte Sölch, Berlin: Reimer, 2021.
- „‚Snowflake Generation’ – Die Kristallisierung kosmischer (Un-)Ordnung“, in: Bilder der Kälte: Erkenntnis und Ästhetik am Gefrierpunkt (Bildwelten des Wissens), hg. v. Matthias Bruhn, Berlin: De Gruyter, 2021.
- „Matters of Mathematics. Modeling Insights through Designerly Practices“, in: Design and Science, hg. v. Leslie Atzmon, London: Bloomsbury, 2021 (im Erscheinen).
- „Von Tupfen, Rissen und Fäden. Präzision als verkörperte Praxis in der Frühen Neuzeit“, in: Bilder der Präzision (Bildwelten des Wissens), hg. v. Matthias Bruhn und Sara Hillnhütter, Berlin: De Gruyter, 2018, S. 137–152.
- „‚The Debt of Art to Nature’. A Travelling Exhibition Inspired by D’Arcy Thompson’s On Growth and Form“, in: Echoes from the Vault, St. Andrews University Library Special Collections, Blog, online unter: https://wp.me/p1Bux8-3QN
- „Evolution und gestalterischer Prozess: Der Mythos der Optimierung“, in: +ultra. gestaltung schafft wissen, Ausstellungskatalog, Berlin, Martin-Gropius-Bau, hg. v. Nikola Doll, Horst Bredekamp und Wolfgang Schäffner, Leipzig: Seemann, 2016, S. 85–91.
Forschungsvorhaben: Kraftfelder des Organischen: Gestalt(ungs)prozesse als Bildproblem in der organizistischen Biologie des frühen 20. Jahrhunderts
Der Biologe D’Arcy W. Thompson hat in seinem opus magnum On Growth and Form von 1917 eine Theorie der Formbildung entworfen, die Form als Diagramm einwirkender Kräfte definierte – im Organischen wie im Anorganischen und in der Kunst. So versuchte er, die ganzheitliche Veränderung organischer Formen im Wachstum wie auch in der Evolution zu begründen, wobei er zur Visualisierung seines Konzeptes auf Albrecht Dürers Netzdiagramme zurückgriff. Mit Aufkommen der Quantenphysik und Relativitätstheorie sowie der Biochemie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, standen der Biologie bald jedoch neue Ansätze zur Verfügung, um Ganzheitseffekte im Organismus zu erklären. Eine Gruppe britischer Wissenschafler*innen, die sich zu Beginn der 1930er Jahre, von Thompson inspiriert, im Theoretical Biology Club zusammenschloss, verfolgte das Ziel, mit Hilfe von elektromagnetischen Feldern, ‚physikalischen Gestalten’, dynamischen Gleichgewichten und Emergenzeffekten die Selbststeuerungsfähigkeiten des Organismus zu durchdringen. Mit ihrem ‚dritten Weg’ des sog. ‚Organizismus’ hofften sie, den jahrhundertealten Konflikt zwischen Mechanizisten, die den Organismus als Maschine deuteten, und Vitalisten, die an ein unergründliches Lebensprinzip glaubten, beizulegen.
Zugleich erkannten sie jedoch schon früh das Bildproblem, das mit der Abwendung vom Mechanizismus und der Hinwendung zum organizistischen Prozessdenken zusammenhing. Sie schauten daher auf die Kunst des Britischen Konstruktivismus, der mit dynamischen Gleichgewichten, Kraftwirkungen und Prozessualität experimentierte, sowie auf den All-Over-Effekt des Amerikanischen Expressionismus, der das Ineinandergreifen physikalischer Energiefelder geradezu körperlich erfahrbar zu machen schien. Das Forschungsprojekt untersucht, wie Vertreter*innen der organizistischen Biologie der 1930er bis 1960er Jahre im Austausch mit Künstler*innen ihrer Zeit zu überraschenden Bildfindungen kamen und dabei eine frühe Theoretisierung des Wertes der Künste für die Wissenschaften vorantrieben.
Forschungsergebnisse: Kraftfelder des Organischen: Gestalt(ungs)prozesse als Bildproblem in der organizistischen Biologie des frühen 20. Jahrhunderts
Während meiner Zeit als Junior-Fellow der Kolleg-Forschungsgruppe konnte ich jenseits des anvisierten Kapitels zur Rezeption von D’Arcy W. Thompsons Theorie einer kraftbasierten Morphologie durch die Mitglieder des Theoretical Biology Clubs (TBC) im Großbritannien der 1930er und 1940er Jahre hinausgehend noch ein weiteres Kapitel der Dissertation fertigstellen, das sich mit dem Beitrag der Mitglieder des TBC zu Richard Hamiltons Ausstellung „Growth and Form“ befasst, die 1951 am Londoner Institute of Contemporary Arts (ICA) stattfand.
In den 1930er Jahren wurde Thompsons Vorstellung mechanischer Kräfte, die die Form des Organismus hervorbringen, vom post-Newton’schen Konzept des elektromagnetischen Feldes abgelöst. Die Mitglieder des TBC übernahmen das Konzept des morphogenetischen Feldes vom Wiener Biologen Paul Weiss, das auf den sog. „physischen Gestalten“ des Berliner Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler aufbaute, und machten es fruchtbar für die Erklärung der selbststeuernden Erzeugung von Form im Embryo – den organischen „Gestaltungsprozess“. Indem sich die Mitglieder des TBC die Vorstellung einer Isomorphie zwischen psychologischen, physiologischen und physikalischen Gestalteffekten aneigneten, wurden auch Gestalteffekte in der Wahrnehmung von Kunstwerken relevant für ihre Forschungen zur ganzheitlichen Organisation des Organismus – einen Ansatz, den sie als „Organizismus“ bezeichneten. Ihre Hinwendung zur Kunst hatte nicht zuletzt eine politische Relevanz: Von der Kunst erhofften sie sich eine Popularisierung des organizistischen Denkens in Prozessen, Relationen und Interdependenzen, und damit die Schaffung eines neuen „Common Sense“, der zum Sozialismus hinführen sollte. Die Ausstellung „Growth and Form“ kann vor diesem Hintergrund geradezu als Manifest des Organizismus verstanden werden – als Experiment im Erlernen eines „Sehens in Bewegung“, das bislang verborgene Muster in der Wirklichkeit erkennbar macht, und somit die Reiche des Organischen und Anorganischen, wie auch der Kunst und Gesellschaft eint.