Dr. Reto Rössler
Vita
Reto Rössler ist Literatur- und Kulturwissenschaftler. Seit 2017 lehrt er an der Europa-Universität Flensburg am Seminar für Germanistik, im B.A.-Studiengang European Cultures & Society sowie im Masterstudiengang Transformationsstudien.
Er studierte die Fächer Germanistik und Philosophie an der Universität Trier und war anschließend Stipendiat im binationalen Doktorand*innen-Netzwerk Phd.Net Das Wissen der Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Promotion schloss er dort Ende 2018 mit der Arbeit Weltgebäude. Poetologien kosmologischen Wissens der Aufklärung ab (2020 im Wallstein-Verlag erschienen).
Reto Rössler war wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Germanistik an der Universität Trier (2011-2012); im Sonderforschungsbereich 600: Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart (2010-11) sowie im DFG-Projekt ›Versuch‹ und ›Experiment‹. Konzepte des Experimentierens zwischen Naturwissenschaft und Literatur (1700-1960) an der Universität Innsbruck (2015-2017); des Weiteren war er Visiting Graduate Student an der Princeton University (USA; 2013) sowie Gastwissenschaftler am Forschungszentrum Erfurt / Gotha (im Rahmen eines Herzog-Ernst Stipendiums 2015).
Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Literatur- und Wissensgeschichte, Interkulturelle Literaturwissenschaft sowie Metaphorologie und Begriffsgeschichte. Aktuell arbeitet er an einem Projekt zu literarischen und kulturphilosophischen Europa-Entwürfen in der Klassischen Moderne, wirkt in der trinationalen Arbeitsgruppe BorderComplexities mit und ist Mitherausgeber der Buchreihe Ähnlichkeiten im Aisthesis-Verlag.
Publikationen (Auswahl)
- Weltgebäude. Poetologien kosmologischen Wissens der Aufklärung. Göttingen: Wallstein 2020.
- (K)ein »Roman über das Weltall«. Goethes Sternwartenszene der »Wanderjahre« und die Transformation(en) des kosmologischen ›Weltgebäudes‹ der Aufklärung, in: Goethe Jahrbuch 137 (2020) (im Erscheinen).
- Astronoetik. Blumenbergs kopernikanische Poetologie, in: Leistungsbeschreibung. Literarische Strategien bei Hans Blumenberg, hg. von Ulrich Breuer und Timothy Attanucci. Heidelberg: Winter 2020 (im Erscheinen).
- Welt-Gebäude, Naturgemälde und Diagramm. Zur Musealisierung der ›ganzen Natur‹ in der Aufklärung und in Alexander von Humboldts »Kosmos«, in: Museales Erzählen. Dinge, Räume, Narrative, hg. von Johanna Stapelfeldt, Ulrike Vedder und Klaus Wiehl. Paderborn: Wilhelm Fink 2020, S. 115−137.
- mit Gunhild Berg und Martina King (Hg.): Metaphorologien der Exploration und Dynamik 1800/1900. Historische Wissenschaftsmetaphern und die Möglichkeiten ihrer Historiographie (= Archiv für Begriffsgeschichte; Bd. 59). Hamburg: Meiner 2018.
- Vom Versuch. Bauteile zur Zirkulationsgeschichte einer impliziten Gattung der Aufklärung. Berlin: Kadmos 2017.
- mit Tim Sparenberg und Philipp Weber (Hg.): Kosmos und Kontingenz. Eine Gegengeschichte. Paderborn: Fink 2016.
Forschungsvorhaben: Grundkräfte. Zu Duplizität und Verflechtung kosmischer und kultureller Krafttopoi bei Aby Warburg, Ernst Cassirer und Hans Blumenberg
In den Studien des Warburg-Kreises zur Kultur der Renaissance überlagern sich astronomische und astrologische Kräfte, werden diese von Elementen und Gegenständen der Epoche zu Kategorien ihrer kulturtheoretischen Reflexion und Darstellung: Die Rede von ›kultureller Kraft› bzw. ›kulturellen Kräften‹ wird so zum Zugangsterm, um über Wissens- und Disziplingrenzen hinweg verbindende intellektuelle Problemlagen, Denkstile und Praktiken des Wissens zu identifizieren und in ihrer wechselseitigen Durchdringung zu beschreiben. In ihrem Interesse für die kultur- und geistesgeschichtlichen Implikationen frühneuzeitlicher Astrologie und Astronomie stehen die Arbeiten Aby Warburgs, Ernst Cassirers (sowie der übrigen Mitglieder*innen des Kreises) zugleich paradigmatisch für moderne Versuche, Kultur als eine dynamische, sich stetig wandelnde und innovierende Kategorie über den ›Umweg‹ der Kosmologie neu zu denken.
In meinem Projekt möchte ich mich auf Warburgs Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1920) sowie auf Cassirers Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance (1927) fokussieren. Dabei gilt es, Duplizität und Verflechtung(en) kosmischer und kultureller Krafttopoi (darunter das Konzept der ›Grundkraft‹) vergleichend zu analysieren und auf Gemeinsamkeiten wie Unterschiede von bildwissenschaftlichem und problemgeschichtlichen Ansatz zu beziehen. Von hier aus richtet sich mein Blick abschließend auf Hans Blumenberg und dessen Rekonstruktion der kosmologischen und kopernikanischen Wirkungsgeschichte. Auch für seine Konzeption erscheint es dabei keineswegs als zufällig, wenn der Metaphorologe Blumenberg auf Warburg und Cassirer zwar verschiedentlich affirmativen Bezug nimmt, sich hinsichtlich der Vorstellung wirkender Kulturkräfte indes in auffälliger Weise reserviert verhält.
Forschungsergebnisse: Formkräfte europäischer Kultur(en) (Ernst Cassirer)
Die dem Vorhaben zugrunde liegende These einer Verflechtung von kosmischen und kulturellen Kraftkonzepten innerhalb der Fallstudien des Warburg-Kreises lässt sich entlang Ernst Cassirers Cusanus-Lektüre in Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance belegen. Das geistige Spannungsfeld der Renaissance kennzeichnet demnach, dass in ihr den Naturkräften des neuplatonischen Stufenkosmos die »Arbeit des Gedankens« als kulturell formbildende, zugleich moderne Subjektivität konstituierende Kraft entgegentritt.
Über die kulturwissenschaftliche Anverwandlung des Kraftbegriffs, der auf die Rekonstruktion epistemischer Ereignishaftigkeit, Interferenz und (Wechsel-)wirkung im Denken und der Forschungspraxis einer Epoche gerichtet ist, löst sich Cassirer von zeitgenössischen Formen einer immanenten (in Kategorien von ›Werk‹, ›Autor‹ oder ›Disziplin‹ gefassten) Historiographie und weist so auf jüngere literatur-, kultur- und wissensgeschichtliche Ansätze wie die Blumenbergʼsche ›Metaphorologie‹, die ›Science and Technology Studies‹ oder die ›Poetologien des Wissens‹ voraus.
In einer weiteren Untersuchung (im Rahmen des Postdoc-Projekts) ist geplant, Cassirers Philosophie vor dem Hintergrund des sich nach 1914 im literarischen Feld verdichtenden Europa-Diskurses eingehend zu analysieren. Als relationales Spiel der Kräfte gefasst, impliziert ein solcher Kulturbegriff gegenüber robusten Prägungen von ›Geist‹ oder ›Nation‹ die Vorstellung von Übergänglichkeit und Transfer – und zeigt sich so auch als richtungsweisend für den Kontext einer interkulturellen Moderne.