Ines Gries, M.A.
Vita
Ines Gries studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik sowie Ästhetik (interdisziplinär) an der Goethe-Universität Frankfurt und an der University of Cambridge in England (Erasmus). Seit 2019 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt und arbeitet an einer Dissertationsschrift zur Beziehung von Goethes Metamorphose zu seinen volkstümlichen Texten [AT: Wissen – Volk – Literatur. Metamorphe Bildung in Goethes volkstümlicher Dichtung].
Publikationen (Auswahl)
- „Goethes Märchen und seine Essays zur Spiraltendenz. Eine posthumanistische Lektüre“, in: Studia Germanica Posnaniensia XLII 2022 mit dem Themenschwerpunkt Ästhetiken des Posthumanen in Literatur und Medien (in Review).
- „Tanzende Pflanzen. Eine posthumanistische Perspektive auf Goethes Kunstnatur“, in: TRANSPOSITIONES. Zeitschrift für transdisziplinäre und intermediale Kulturforschung mit dem Themenschwerpunkt Multiples Wissen. Lernen von/mit andern Entitäten. Vandenhoeck & Ruprecht 2022, S. 65-84. Link zur Online-Ausgabe: https://www.vr-elibrary.de/toc/trns/1/1.
Forschungsvorhaben: Vermögen des Zufälligen
Aus einem Seitenfenster in Goethes Weimarer Gartenhaus geht der Blick auf den Altar der Agathé Tyché, eine große Kugel auf einem kubischen Sockel. Dieses Denkmal steht sinnbildlich für den Grundkonflikt, den er in seinen Naturstudien verhandelt: den Streit zwischen dem Regelmäßigen und Unregelmäßigen.
Während meines Forschungsaufenthaltes im Sommer 2022 möchte ich die gleichermaßen als Kraft der Natur wie Kraft der Kunst beschreibbare Kraft des Zufälligen als Extremform des Unregelmäßigen untersuchen. Das Zufällige begegnet uns in Goethes Morphologischen Schriften als zweite Stanze (Tyché) seiner Urworte. Orphisch sowie als Verlaufsform der Pflanzenmetamorphose. Gekennzeichnet ist das Zufällige dabei vor allem als Kraft, die dasjenige bloßstellt, was Goethe als monstros bezeichnet (z.B. die durchgewachsene Rose). Dass es sich bei diesem Verhältnis von monstros und Zufall um ein epistemologisches Problem handelt, wird mit seinen späten Aufsätzen zur Spiraltendenz (1831/32) klar. Hier wird monstros, wo die Kraft der Vertikaltendenz („wie ein geistiger Stab“) fehlt und die Spiraltendenz („das eigentlich produzierende Lebensprinzip“) zu isoliert wirkt – d.h. wo Substanz und Methode nicht ausbalanciert sind.
Kulturgeschichtlich gilt das Zufällige vor allem als Symptom mangelnden Wissens, d.h. etwas nicht der Substanz eigenes, sondern der Perspektive fehlendes. In diesem Sinne werden u.a. Goethes Singspiele monstros, wo die „allerzufälligsten Elemente [...] nothgedrungen zusammen gereiht“ wurden. Analog zu einer Kraft der Natur, die um 1800 für biologische Diversität verantwortlich gemacht wird, erscheint das Zufällige als eine Kraft der Kunst, die kanonisierende Produktionen konterkariert („große bedeutende Darstellung“) und stattdessen oblique Transformationen befördert („liebhaber-Theater“).
Forschungsergebnisse: Vermögen des Zufälligen
Goethes Begriff des Zufälligen läuft unter dem Namen Týchē. Gegenständlich wird dieser in seinem Werk dreimal: als Gartendenkmal in Weimar, als zweite Stanze seiner Urworte. Orphisch und drittens im Monströsen, in dem sich die zufällig verlaufende Metamorphose manifestiert.
Goethe dient das Zufällige dabei als Metapher für das Vermögen zur Bewegung. Besonders deutlich wird das am Monströsen, wenn Goethe es äußerst ambivalent mal als pathologisch, mal als Wunderzeichen wertet. Nicht am Monströsen selbst – zum Beispiel an der durchgewachsenen Rose – zeigt sich Týchē als Vermögen zur Bewegung, sondern in der beweglichen Anschauung des monströsen Gegenstandes. Dabei nimmt die Bewegung der Anschauung eine ganz spezifische Form an, nämlich die des Schwankens zwischen verschiedenen Möglichkeiten der Wertung.
Wissensgeschichtlich ist das Zufällige nicht nur ein Beweis für Kontingenz, sondern dient als Platzhalter für das (noch) Unerklärliche. Dabei reflektiert das Zufällige im Gegensatz zum Numinosen seinen interimistischen Status als „noch nicht“ immer mit und dient damit auch immer als aktueller Spiegel des gegenwärtigen Wissensstandes. Goethes Begriff des Zufälligen nun erweitert dieses „noch nicht“ in ein stetiges „oder anders“, das nicht nur den interimistischen Status eines spezifischen Wissensstandes, sondern vielmehr die Unabgeschlossenheit jeder Erkenntnis gegenwärtig macht.