Dr. Jakob Moser
Foto: Christopher Mavrič
Vita
Jakob Moser ist Philosoph und Kulturwissenschaftler. Seit Juni 2021 ist er Postdoc-Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Wien. Derzeit arbeitet an einem Forschungsprojekt zur Geschichte und Theorie dämonischer Trugbilder. Unlängst erschien seine Monografie über die transmediale Rezeption der legendären Versuchungen des hl. Antonius (Turia + Kant 2022). Er promovierte mit einer Arbeit über Lukrez’ Poetik des Übersetzens (V&R unipress 2022) und verfasste ein Buch über die Verflechtung von Rhetorik und Rationalität in Descartes’ Frühwerk (Fink 2018). Von 2014 bis 2017 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Konstanz. Gastaufenthalte führten ihn an die UC Berkeley, ans KHI Florenz und IFK Wien. Als Fellow der DFG-Forschungsgruppe „Imaginarien der Kraft“ forscht er zum Verhältnis von Meteorologie und Imaginationstheorie bei Lukrez.
Publikationen (Auswahl)
- Lesende Dämonen. Schrift als Versuchung, Berlin/Wien: Turia + Kant (IFK lectures & translations, hg. v. Thomas Macho) 2022.
- Dädalische Zunge. Lukrez als Übersetzer des Realen, Göttingen: Vienna University Press (Vandenhoeck & Ruprecht) 2022.
- „Bookish Demons. Scriptural Temptations in the Late Medieval and Early Modern Iconography of St. Anthony“, in: Zeitsprünge. Forschung zur Frühen Neuzeit, Bd. 26 (2022), S. 88-127.
- Rationis Imago. Descartes’ Dichten, Träumen, Denken, Paderborn: Fink Verlag, 2018.
- „Manifest gegen die Evidenz. Tastsinn und Gewissheit bei Lukrez“, in: Helmut Lethen, Ludwig Jäger, Albrecht Koschorke (Hg.), Auf die Wirklichkeit zeigen. Zum Problem der Evidenz in den Kulturwissenschaften, Frankfurt/New York: Campus Verlag 2015, S. 85-105.
Forschungsvorhaben: Physik der Wolke. Naturgewalt und Phantasma bei Lukrez
Am Höhepunkt seines philosophischen Epos, im 6. Buch seines De rerum natura, widmet sich Lukrez meteorologischen Phänomenen. Darunter versteht er im antiken Sinn Naturgewalten, welche die gesamte Geosphäre betreffen: Stürme, Erdbeben, Vulkanausbrüche, aber auch die verborgene Macht des Magnetismus und todbringender Epidemien. Den Auftakt bildet die repetitive und minuziöse Schilderung der Genese von Wolken und Gewittern, die mit über 400 Versen zu den umfangreichsten Beschreibungen des Epos gehört. Die Verse bilden ein Paradebeispiel für das dynamische Naturbild des Dichters, das in immer neuen Anläufen nach sichtbaren Ausdrücken und Analogien der unsichtbaren atomaren Kräfte sucht. Lukrez möchte den Himmel einerseits vom theologischen Terror befreien, andererseits die bedrohlichen Mächte des Himmels in den Dienst seiner rhetorischen Überzeugungskraft stellen, um sein Publikum zu überwältigen. Aufklärungsarbeit und Erhabenheitseffekte gehen in seinen Wolkenschilderungen Hand in Hand. Gleichzeitig werden die Wolkenbilder außerhalb des 6. Buchs zu einem physikalischen Modell der Erklärung alptraumhafter Trugbilder. Diese Bilder entstehen spontan und losgelöst von den Grenzen der Festkörper in der Atmosphäre. Das Forschungsprojekt möchte diesen Zusammenhang von Wolkentheorie und Phantasma, der nicht nur Lukrez fesselt, herausarbeiten. Es gilt zu zeigen, warum die Phantasie aus materialistischer (epikureischer) Sicht nicht nur ein Problem der Psychologie, sondern eines der Meteorologie ist.
Forschungsergebnisse: Physik der Wolke. Naturgewalt und Phantasma bei Lukrez
Wolken sind für Lukrez Ausdruck einer Physik, die zwischen einer Mechanik der Festkörper und einer Strömungslehre vermittelt. Da Wetterphänomene weitgehend auf stochastischen Prozessen beruhen, lassen sie sich kaum vorhersagen und ihre Ursachen nicht totalisieren. Darum wendet Lukrez im Gefolge Epikurs multiple Erklärungsmuster an. Alle denkmöglichen Ursachen werden aufgelistet. Diese Methode eröffnet einen literarischen Möglichkeitsraum, der alle Verfahren rhetorischer Evidenz-Erzeugung auslotet. Wolken erfüllen mindestens drei Funktionen:
(1) Wolken sind ein poetologischer Katalysator. Da sie sich der unmittelbaren Verifizierbarkeit entziehen, werden sie durch Analogien aus dem Bereich der Alltagserfahrung veranschaulicht. Die ohnehin multiplen Ursachen werden durch Metaphern multipliziert. Eine dichte Textur epischer Vergleiche tritt an die Stelle monokausaler Erklärungen. Auf metaphorischer Ebene ist die Wolke ein Gegenbild der Aufklärung, das es in eine nicht-mythische Sprache aufzulösen gilt. Die Kraft, die in der Wolke schlummert, verwandelt sich von einer Naturgewalt in eine sprachliche Überzeugungsmacht, ein Topos, der die Ästhetik des Erhabenen prägt.
(2) Wolken sind ein kosmologisches Paradigma. Wie die Staubwolken, die ein sichtbares Bild und Modell der unsichtbaren Kinetik der Atome darstellen, geben Wolke und Wetter Einblick in die Dynamik mikro- und makrokosmischer Prozesse. Gewitter sind Ausdruck eines inneren Zwiespalts aller Dinge. Unwetter sind Analogien des urzeitlichen Chaos und zugleich Antizipation des künftigen Weltuntergangs. Die Unvorhersehbarkeit meteorologischer Phänomene ist nicht nur in der Multiplizität der Ursachen angelegt; sie resultiert aus dem Clinamen, der nicht-deterministischen Atomabweichung.
(3) Wolken illustrieren eine materialistische Phantasmalogie. Lukrez spricht wiederholt von Simulakra, die wie Wolken in der Luft entstehen. Er schildert bewegte Wolkenbilder, in denen wir Gesichter, Ungeheure, mythologische Wesen erblicken. Wolkenbilder sind ein Modell für Bilderwolken, die unabhängig von den Festkörpern entstehen und uns wie eine Naturgewalt überfallen können. Mythologische, erotische und traumhafte Phantasmen sind für Lukrez nicht bloß eine Frage der Psychologie, sondern auch eine der Meteorologie. Dieser Zusammenhang geistert noch in manchen Wolkenbilder der Renaissance fort.