Dr. Matthew Vollgraff
Vita
Matthew Vollgraff ist Kunst- und Wissenschaftshistoriker mit Schwerpunkt auf der deutschsprachigen Moderne. Seine Arbeit befasst sich mit den miteinander verbundenen Geschichten der Ästhetik, Anthropologie und der Lebenswissenschaften. Matthew ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Warburg Institute, London, wo er Teil des Forschungsverbunds „Bilderfahrzeuge: Aby Warburgs Vermächtnis und die Zukunft der Ikonologie“ ist. 2019 promovierte er an der Princeton University. Er war Fellow in der Forschungsgruppe „Naturbilder“ an der Universität Hamburg (2016–2018) und Gastdoktorand am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin (2014–2016).
Matthew Vollgraffs aktuelles Buchprojekt, The Science of Expression: Nature, Culture and Gesture in Modern Germany, artikuliert die Geschichte der Ausdrucksgebärde als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis in Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts. In einer Reihe interdisziplinärer Fallstudien, in denen Begegnungen zwischen Kunsthistorikern, Philosophen, Biologen, Psychologen und Filmemachern im Mittelpunkt stehen, wird die Entwicklung einer alternativen Epistemologie des somatischen Ausdrucks nachgezeichnet: ein Phänomen, das damals wie heute die Unterscheidung zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften ins Wanken bringt.
Publikationen (Auswahl)
- Ökologien des Ausdrucks. Ecologies of Expression, hg. mit Frank Fehrenbach, Berlin: De Gruyter – in Vorbereitung (erscheint im Herbst 2021).
- "Die Pflanze als Erfinder. Raoul Francé, die Biotechnik und die Avantgarde der Zwischenkriegszeit" in: Lutz Hengst, Frank Fehrenbach, Frederike Middelhoff und Cornelia Zumbusch (Hg.): Form- und Bewegungskräfte, Berlin: De Gruyter – in Vorbereitung (erscheint im Herbst 2021).
- "L'arc de l’histoire. De l’anthropologie diffusionniste à la morphologie des cultures" in: La Part de l'Œil, Nr. 35–36: 'André Leroi-Gourhan et l’esthétique / Art et anthropologie' (2021), S. 378–399.
- "The Archaeology of Expression: Aby Warburg’s Ausdruckskunde" in: Frank Fehrenbach und Cornelia Zumbusch (Hg.): Aby Warburg und die Natur, Berlin: De Gruyter, 2019, S. 121–148.
- "Vegetal Gestures. Cinema and the Knowledge of Life in Weimar Germany" in: Grey Room, Issue 72 (Sommer 2018), S. 68–93.
- "Intersecting Lines: Sergei Eisenstein Writes to Ludwig Klages" in: Critical Quarterly, Volume 58, Nr. 4 (Februar 2017), S. 113–122.
- "The Archive and the Labyrinth: On the Contemporary Bilderatlas" in: October, Issue 149 (Sommer 2014), S. 143–158.
Forschungsvorhaben: Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft: Politik der Geste bei Ludwig Klages und Sergei Eisenstein
Das Projekt erforscht die Wissenschaft und Kulturpolitik der Geste in der Weimarer Republik und in der Sowjetunion. Ausgangspunkt ist die Rezeption der Ideen des deutschen Graphologen und Philosophen Ludwig Klages (1872–1956) durch den russischen Filmemacher und Theoretiker Sergei Eisenstein (1898–1948). Klages’ „Ausdruckskunde“ war Teil einer breit angelegten neuromantischen Kritik an der wissenschaftlichen Vernunft sowie an der modernen liberalen Kultur. Empirisch in der Theorie, doch intuitiv in der Praxis versuchte Klages, den individuellen Charakter aus den Ausdrucksbewegungen zu destillieren, indem er die Psyche als ein Feld polarisierter, widerstreitender Kräften modellierte.
Eisenstein war nicht nur einer der scharfsinnigsten Leser von Klages, er verarbeitete auch dessen Ideen zu einer angewandten ästhetischen Psychologie für Theater und Kino. Die Tagebücher des Regisseurs aus dem Jahr 1920 zeigen seine Bemühungen, den Ausdruck mittels eines neuen Systems der graphischen Notation zu strukturieren, oder sogar – zu montieren. In diesen unveröffentlichten Texten übersetzt Eisenstein Klages’ polares, zweidimensionales und metaphysisches Modell der Expressivität in ein mehrstimmiges, dreidimensionales und radikal kinematisches.
Mein Projekt verortet diese transformative Aneignung Klages’ durch Eisenstein im Kontext zeitgenössischer kultureller Strömungen: vom Ausdruckstanz und Körperkultur bis hin zur physiologischen und psychologischen Ästhetik. Diese Affinität von Gegensätzen – zwischen Klages dem mystischen Antisemiten und Eisenstein dem jüdischen Bolschewiken, zwischen dem vitalistischen Metaphysiker und dem dialektischen Materialisten – soll schließlich erhellen, was für beide Akteure politisch auf dem Spiel stand: die Erkenntnis der gestaltenden Kräfte der Ausdrucksbewegung.