Zumbusch: Romantische Thermodynamik. Kräftelehren der Goethezeit (abgeschlossen)
Prof. Dr. Cornelia Zumbusch: Romantische Thermodynamik. Kräftelehren der Goethezeit
In naturphilosophisch inspirierten Poetiken werden zwischen 1770 und 1830 sowohl der Primat einer möglichst starken Wirkung als auch die Vorstellung vom großen ›Kraftgenie‹ abgebaut. Stattdessen tritt Kraft als Ursache einer als beweglich, veränderlich und flüchtig gedachten Form in den Vordergrund. Den Schlüssel bieten hier Neuentwürfe einer Kraft der Dichtung, wie sie in literarischen Texten aufzusuchen sind. In Hardenbergs Klingsohr-Märchen fügt ein Kind namens Fabel galvanische Ketten, in denen Körper elektrisiert, magnetisiert, erhitzt und geschmolzen werden. In Goethes Faust II stellt sich ein Knabe namens Lenker als ›die Poesie‹ vor und teilt flammendes Gold aus, das sich in den Händen der Leute in Käfer verwandelt. Diese kleinen Figuren, die gewaltsame Naturkräfte nicht entfesseln, sondern auf sanfte Weise steuern, nutzen und verwandeln, deute ich als Neukonfigurationen poetischer Kraft, die sich im Vorfeld der Thermodynamik bewegen. Der in den 1840er Jahren von Hermann von Helmholtz formulierte erste Satz der Thermodynamik besagt, dass potentielle, kinetische, chemische, elektrische, magnetische und thermische Kraft ineinander überführt werden können. Dem thermodynamischen Denken zeigt sich die Welt nicht als Mechanismus, sondern als selbstorganisierter Metabolismus, in dem verbrannt und verbraucht, geatmet und gegessen wird. Goethe stellt mit der Formel von der Natur als ›Kraft, die Kraft verschlingt‹ natürliche Vorgänge ebenfalls ins Zeichen eines Verschlingens, das zwischen metabolischem Verschlucken und textilem Verflechten schwankt. Wie zu zeigen ist, entwickelt er in den fantastischen Naturszenarien im Märchen, der Novelle und vor allem im Faust II zugleich das Konzept einer Textproduktion, die sich als fortgesetzte Gestaltung und Umgestaltung versteht.