Kräfte der Kunst in der Frühen Neuzeit
Prof. Dr. Frank Fehrenbach: Kräfte der Kunst in der Frühen Neuzeit
Ästhetische Modellierungen der Kräfte der Natur bezeichnen einen gemeinsamen Nenner zeitlich, geographisch und typologisch höchst unterschiedlicher Formen der Bildenden Kunst zwischen den Parietalbildern der Jungsteinzeit und der US-amerikanischen Land Art, zwischen der praxitelischen Venus und Duchamps Großem Glas, zwischen Apelles und Beuys, Prometheus und Pierre Huyghe. Meine geplante Monographie unternimmt den Versuch, systematisch die Bedeutung unterschiedlicher Kräftelehren in den visuellen Künsten zwischen Spätmittelalter und Spätbarock, zwischen ca. 1300 und jenseits der wissenschaftshistorischen Wende bis ca. 1750, zu untersuchen. Anstelle der bereits relativ gut untersuchten sympathetischen und magischen Kräfte soll es dabei vor allem um physikalische und physiologische Wirkungszusammenhänge gehen. Eine der Ausgangshypothesen lautet, dass das physikalische Konzept des ›Impetus‹ ästhetische Erfahrungen in den Blick zu nehmen erlaubt, die sich als Ursache-Wirkungsgefüge beschreiben lassen, ohne dafür auf numinose Akteure (Gott, Engel, Dämonen, Seelen) rekurrieren zu müssen. War damit eine Entlastung der Wirkungsästhetik von Kunstwerken gegenüber dem Idolatrieverdacht verbunden?
Die chronologische Koinzidenz zwischen der spätscholastischen Impetusphysik, der Neuformulierung der physikalischen und physiologischen Optik und der Entstehung des neuzeitlichen Bildes in der zweiten Hälfte des 13. Jhdts steht am Ausgangspunkt der Überlegungen. Im Gegensatz zur aristotelischen Wurftheorie behauptet die bis Galileo Galilei dominante Impetusphysik, dass vom Motor ein Wirkungsquantum im Projektil zurückgelassen wird, das diesem ein dynamisches Surplus verschafft. Die sozioökonomischen und sakramentaltheologischen Motive der neuen Physik sind ansatzweise erforscht, nicht aber ihre Parallelen in der arabische Vorläufer aufgreifenden franziskanischen Wahrnehmungstheorie und in der neuen Auffassung vom Bild als Bühne dramatischer Handlungen sowie als Motor emotionaler Reaktionen, mithin als Visualisierung und als Auslöser von Kraftwirkungen, als Speicher eines dynamischen ›Mehrwerts‹. Vermittelt wird dieser durch optische Übertragungen, die von der zeitgenössischen Physik und Physiologie als dynamische Veränderung des Mediums und Radiation von Abbildern der Gegenstandsoberflächen beschrieben werden. Species bzw. simulacra durchstrahlen das durch Licht transparent gemachte Medium und bewirken Veränderungen im Auge und den nachgeschalteten ›inneren‹ Sinnen, die als Intensitäten aufgefasst werden.
Einer der Pioniere des neuen Bildes und seiner auf physiologischen Eindruck und psychischen Affekt zielenden Wirkung, Giotto, führt in der einflussreichsten aller Kunstgeschichten, Giorgio Vasaris Vite aus der Mitte des 16. Jhdts, eine Entwicklung an, die für den Autor auf einer kontinuierlichen Zunahme an forza beruht und in Michelangelo kulminiert, wo sie bezeichnenderweise eine maximale Steigerungsform erfährt, die als terribilità erscheint. Die Semantik der forza ist erst ansatzweise erforscht. Befragt man einen zeitgenössischen Künstler-Wissenschaftler wie Leonardo da Vinci, erhält man die Antwort, dass die Kraft einen dynamischen Übertrag im widerständigen Objekt bewirkt (d.i. der Impetus) und dass sie zugleich den inerten Objekten den Schein des Lebens qua Bewegung verleiht; ähnlich hatte bereits Nicolaus Cusanus argumentiert. Die Monographie will Licht in das komplexe semantische Gefüge der Kräfte bringen. Einerseits muss hierbei die rhetorische Tradition berücksichtigt werden, deren Konzept des ›Pathos‹ als Überwältigungsmodus modellbildend für die Konzeption des physikalischen Impetus war. Andererseits geht es um die Dominanz der aristotelischen Entelechie, bei der die spezifischen Kraftwirkungen als Aktualisierungen intrinsischer ›Vermögen‹ (vires, facultates) im Objekt definiert werden. Die kunsthistorische Zunahme der ›Kraft‹ seit Giotto, die Vasari behauptet, bewegt sich in diesem semantischen Feld. Etabliert die Rede über Kraft auch ein Vergleichskriterium zwischen künstlerischen und natürlichen Hervorbringungen, im Sinne von Tizians ambivalentem, komparativischem Motto (›Natura potentior ars‹) oder von Antonfrancesco Donis Resignation der Kunst gegenüber einer Natur, der für die Produktion jedes Grashalms eine infinita potenza zur Verfügung stehe?
Selbsterhaltungskraft, Bewegungskraft, inertia, vis attractiva stehen zwischen spätem 16. und 18. Jhdt in einem komplexen physikalischen, physiologischen und physikotheologischen Zusammenhang. Welche Bedeutung hat die erneuerte rhetorische Kategorie des movere für Kunst und Kunsttheorie des Barock vor dem Hintergrund der neuen Naturwissenschaft, die dynamische Übertragungen und Emergenzphänomene der Materie hervorhebt? Welche Rolle spielen Transgressions- und Ausgleichs- bzw. (providentielle) Harmonievorstellungen der Kräfte im Rahmen einer binären Ästhetik zwischen sublime und grace? Und wie lässt sich die Verschiebung fassen, die das seit der Antike dominante rhetorische Modell der Wirkungsästhetik seit dem 17. Jhdt auch für die Bildende Kunst immer deutlicher auf die produktionsästhetische Rolle der Kraft hin öffnet?