Zumbusch: Einfluss. Imaginationsgeschichte poetischer Kräfte
Prof. Dr. Cornelia Zumbusch: Einfluss. Imaginationsgeschichte poetischer Kräfte
Umwelteinflüsse oder der Einfluss der Menschen auf das Klima, politische Einflussnahmen oder in sozialen Medien agierende Influencer:innen – wo heute von Einfluss die Rede ist, sind ebenso machtvolle wie schwer greifbare Phänomene gemeint. Schon Max Weber unterscheidet zwischen Herrschaft als Form einer legitimierten, auf Weisung und Gehorsam gegründeten Machtausübung sowie Einfluss als Sammelbecken ungeregelter Machtbeziehungen, die sich abseits von Gesetzen und Gesetzestreue geltend machen (Weber 1980, 129). In einer weiteren Differenzierung hat man Macht (power) als Möglichkeit bestimmt, andere zu Handlungen zu bewegen, Einfluss hingegen als Versuch beschrieben, andere zu Meinungen, Ansichten oder Überzeugungen zu bringen (Zimmerling 2005). In der Wissenschaftstheorie wird unter Einfluss gerade dasjenige gefasst, was sich dem mathematischen Kalkül entzieht: »man spricht von Einfluss, wenn man eine ursächliche Verbindung annimmt, aber die Wirkung nicht genau berechnen kann.« (Mauthner 1910, 355). Noch in der gegenwärtigen Erdsystemforschung springt die Rede von den Einflüssen meist dort ein, wo die Komplexität von Wirkungsfaktoren die Modellierungen an ihre Grenzen treibt. Der Charakter des Ungeregelten macht den Einfluss für den literatur- und kunstwissenschaftlichen Zugriff zwar problematisch (Hassan 1955; Hermerén 1975), für Metaphorisierungen allerdings höchst attraktiv (Blumenberg 2012; Pfisterer/Tauber 2018). Dieser Befund ist ernst zu nehmen. Beim Einfluss, davon geht das Projekt aus, handelt es sich um eine Metapher für diffuse Kraftwirkungen, welcher der Sprung zum Begriff nicht recht gelungen ist. Für die Rede vom Einfluss gilt damit in eminenter Weise, was dem Forschungszusammenhang »Imaginarien der Kraft« als These zugrunde liegt: Einfluss bezeichnet ein nicht restlos wissenschaftsfähiges Phänomen, das sich an den Übergängen zwischen Wissensgebieten aufhält.
Die Geschichte dieses ungreifbaren Begriffs ist noch nicht geschrieben. Meint Einfluss, deutsch für influxus, in der spätantiken Astrologie den kosmischen Einfluss der Sterne auf den Menschen, so avanciert influxus im 17. und 18. Jahrhundert zum Grundbegriff der Anthropologie. Die kosmologische und anthropologische influxus-Theorie bildet sich nicht zufällig parallel zur Mechanisierung und Mathematisierung des Weltbildes aus. Einerseits garantiert die Fluidum-Theorie mit ihrer Annahme fließender spiriti oder Nervengeister, dass mit Bezug auf die Gesetze der Anziehungskraft wie auch auf den rätselhaften Verkehr zwischen Leib und Seele mechanistisch argumentiert werden kann. Andererseits untergraben influxus-Theorien das streng mathematisch-mechanische Fundament physikalischer Kräftelehren, indem sie ältere, hermetisch-naturmagische Vorstellungen tradieren. Erstaunlich unbehelligt von diesen Widersprüchen wandert der Einflussbegriff im 18. Jahrhundert in Gestalt klimatheoretischer Entwürfe in die Kultur- und Kunsttheorie ein (Johnson 1960; Zacharasiewiecz 1977). Die Vorstellung davon, dass es für den menschlichen Organismus gute und weniger gute atmosphärische Bedingungen gibt und dass von diesen klimatischen Gegebenheiten die Kulturleistungen einzelner Epochen und Gesellschaften abhängen, verbindet sich bei Winckelmann oder Herder mit der Frage nach dem ›Einfluss der Antike‹.
Zur gleichen Zeit ist die rhetorische Dimension psychosozialer oder politischer Einflussbeziehungen in politischen Theorien des 17. bis 19. Jahrhunderts omnipräsent. So verhandelt Hobbes im Leviathan die Möglichkeit von Populisten, am Herrscher vorbei ›Einfluss‹ auf das Volk auszuüben, Shaftesbury macht sich Gedanken über den ›Einfluss‹ enthusiastischer Redner auf größere Gruppierungen, David Hume sowie Adam Ferguson entwickeln beim Nachdenken über Prozesse der Meinungsbildung detaillierte Einfluss-Szenarien und Adam Smith beschreibt in The Wealth of Nations die Einflusskraft von Kartellen und Monopolisten. Wie sich hier zeigen lässt, tendieren Entwürfe starker Herrschaft zur Invisibilisierung derartiger Einflüsse, während auf Selbstregulation setzende Modelle den Einflusskräften mehr Raum geben. Um 1900 tritt eine längst angelegte Tendenz hervor, mehr oder weniger angstbesetzte kulturelle Austauschprozesse im Terminus des kulturellen ›Einflusses‹ zu verhandeln (Frank 2006).
Wie zu zeigen sein wird, bilden sich literarische Einflusskonzepte innerhalb hochkomplexer Diskursgefüge heraus, in denen sich naturphilosophische, anthropologische und politische Einflussmodelle verbinden. Diese Verflechtungen sollen herausgearbeitet und auf poetologische Produktionsmodelle bezogen werden. Theoretische Entfaltungen des Problems, dass sich poetische Einflüsse zwar nicht verhindern lassen, gerade deshalb aber sorgfältig dosiert, wenn nicht gar ganz verdrängt werden müssen, finden sich bereits in der Generation der ›Originalgenies‹ und ihrer Nachfolger – allen voran bei Edward Young. Autor:innen des 18.-21. Jahrhunderts entwickeln von hier aus vielfältige Modelle eines Schreibens unter Einfluss, die bisher noch nicht systematisch untersucht worden sind. Hier sind insbesondere die beiden Beobachtungen zur Geltung zu bringen, dass Wechselwirkungen zwischen literarischer Traditionsbildung und Möglichkeiten der Innovation, (1) immer wieder in Metaphoriken des Liquiden (Milch, Wein oder Honig, Blut oder Tinte, Quellen und Flüsse, Seen und Meer) evoziert werden, (2) oft mit Machtausübungen künstlerischer auctoritas assoziiert werden (Zumbusch 2011). Diese Metaphorisierungen lassen sich als Materialisierungen von Immateriellem, mithin als bildliche Annäherungen an das Un(be)greifbare künstlerischer Produktion lesen. Dabei gilt es den widersprüchlichen Verhältnissen zwischen Beeinflussung und Beeinflussbarkeit, mithin einerseits zwischen wirkmächtiger Tradition und schwacher Autorschaft, andererseits zwischen aktiver Bezugnahme und passivem Zitiertwerden nachzugehen.
Die vorgeschlagene Imaginationsgeschichte des Einflusses soll die angedeuteten Punkte in der wechselvollen Karriere des Einflusskonzepts nicht als Stationen einer stringenten Begriffsgeschichte, sondern als variable Funktionen in einem metaphorischen Feld rekonstruieren. Ziel ist es nicht, eine äußerst unscharfe literaturwissenschaftliche Kategorie zu reaktivieren und für die Analyse intertextueller Beziehungen handhabbar zu machen. Vielmehr soll der strategische Einsatz der Rede vom Einfluss wie auch von Metaphern des Flüssigen in literarischen Texten sowie in unterschiedlichen Wissensformationen verfolgt werden. Einflussmetaphoriken sind dabei zum einen als Operatoren in einer poetologischen Reflexion zu beschreiben, die es wort- wie auch wissensgeschichtlich zu kontextualisieren gilt. Zum anderen lassen sich die wissenschaftliche Rede wie die literarische Inszenierung von Einflüssen und Einflussbeziehungen als Arbeit an den Grenzen der eigenen Theoretisierbarkeit beschreiben. Die zu diskutierenden Bereiche betreffen unter anderem 1.) influxus – Einfluss: Astrologie, Atmosphären, Klima 2.) Bewegende Rede und politischer Einfluss: Einflussrhetoriken in politischen Theorien (Hobbes, Shaftesbury, Smith, Weber) 3.) influenza: Einfluss-Semantiken in Poetiken des 18. Jahrhunderts (Young, Winckelmann, Herder) 4.) Ströme und Flüsse: kulturelle Aneignungen in Goethes West-östlichem Divan 5.) Tinte, Wein und Blut: Literarischer Einfluss in Erzählungen des 19. Jahrhunderts (Hoffmann, Brentano, Stifter) 6.) Unsichtbare Kräfte: Einfluss als Kategorie der Kunst- und Literaturgeschichte (Burckhardt, Riegl, Gundolf) 7.) Soziale Energien, soziale Felder: zum Nachleben von Einflussvorstellungen (Warburg, Greenberg, Bourdieu) 8.) Schreiben unter Einfluss: Metaphern des Liquiden in zeitgenössischer Prosa.
Zitierte Literatur:
- Blumenberg, Hans: Quellen, Ströme, Eisberge. Über Metaphern, aus dem Nachlaß des berühmten Philosophen, hg. von Ulrich von Bülow / Dorit Krusche. Berlin 2012.
- Clayton, Jay; Eric Rothstein (Hg): Influence and Intertextuality in Literary History. University of Wisconsin Press 1991.
- Frank, Michael: Kulturelle Einflussangst. Inszenierungen der Grenze in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 2006.
- Hassan, Ihab B.: The Problem of Influence in Literary History, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 14/1 (1955), S. 66–76.
- Hermerén, Göran: Influence in Art and Literature. Princeton 1975.
- Johnson, J.W.: Of Differing Ages and Climes. In: Journal of the History of Ideas 21 (1960), S. 465-480.
- Pfisterer, Ulrich / Tauber, Christine (Hg.): Einfluss, Strömung, Quelle. Aquatische Metaphern der Kunstgeschichte. Bielefeld 2018.
- Weber, Max: Gesammelte politische Schriften, hg. von Johannes Winckelmann. 4. Auflage. Tübingen 1980.
- Zacharasiewiecz, Waldemar: Die Klimatheorie in der englischen Literatur und Literaturkritik. Wien/Stuttgart 1977.
- Zimmerling, Ruth: Influence and Power. Variations on a Messy Theme. Dordrecht 2005.
- Zumbusch, Cornelia: Einfluss/Macht. Zu einem Argument der Renaissanceforschung 1859/1860–1929/1930, in: Archiv für Mediengeschichte 10 (2011), S. 31–41.