Dr. Annika Hildebrandt
Photo: Studio Monbijou
Vita
Annika Hildebrandt ist Literaturwissenschaftlerin mit Schwerpunkten auf dem Verhältnis von Literatur und Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert, Ästhetiken politischer Literatur und Autorschaftstheorien.
Nach einem Studium der Deutschen Literatur und Latinistik war sie von 2013 bis 2016 Mitglied im SFB 644 „Transformationen der Antike“ an der Humboldt-Universität zu Berlin und legte dort 2017 ihre Dissertation vor. Von 2017 bis 2018 war sie Universitätsassistentin an der Karl-Franzens-Universität Graz, von 2018 bis 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Siegen. Seit 2021 lehrt und forscht sie am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Für ihre Dissertation zur deutschsprachigen Kriegsliteratur der Aufklärung erhielt sie 2018 den Scherer-Preis. Ihr Habilitationsprojekt „Poeta non doctus. Literaturgeschichte ungelehrter Autorschaft“ fragt nach den literaturtheoretischen Potenzialen, die von der Faszination für autodidaktische Schreibende von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart ausgingen. Ein Schwerpunkt liegt auf Poetologien der Arbeiterdichtung im 19. und 20. Jahrhundert.
Publikationen (Auswahl)
- Der Sänger als Produzent. Stimme und Intervention in Hanns Eislers Konzept des revolutionären Kampflieds. In: Geistesgegenwart und Nachdenklichkeit. Kleine Formen der Intervention. Themenschwerpunkt Kulturwissenschaftliche Zeitschrift (2024) [im Erscheinen].
- Hg. mit Roman Widder: Fürsprache. Subalterne Literatur seit der Volksaufklärung. Themenschwerpunkt Zeitschrift für Germanistik N. F. 34:1 (2024).
- Hg. mit Eva Axel und Kathrin Wittler: Schreibarten im Umbruch. Stildiskurse im 18. Jahrhundert. Berlin 2024 (= Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 23).
- Neue Menschen, neue Poeten. Expressionismus, Genie und Arbeiterdichtung. In: ‚Genie‘ in der Nachromantik. Themenschwerpunkt German Life and Letters 75:3 (2022), S. 430–447.
- Beobachtete Begeisterung. Ungelehrtes Dichten und Geniekonzept im 18. Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 95:1 (2021), S. 23–41.
- Die Mobilisierung der Poesie. Literatur und Krieg um 1750. Berlin, Boston 2019.
Forschungsvorhaben: Ästhetische Klassenkämpfe. Kraftdiskurse der Arbeiterdichtung um 1900
Das Projekt fokussiert ästhetische Entwürfe einer ‚kraftvollen' Sprache der Arbeiterklasse, die in poetologischen Diskursen um 1900 gegen eine vermeintlich kraftlose, dekadente Dichtung des Bürgertums ausgespielt wird. Während die Literaturprogramme der frühen Arbeiterbewegung seit den 1860er Jahren darauf abzielten, Sprache zum Instrument des politischen Widerstands zu machen, wird die Logik des Klassenkampfs seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf das Feld der Kultur- und Dichtungstheorie übertragen. In dieser Debatte engagieren sich nicht nur Politikerinnen und Politiker deutscher Arbeiterparteien (Clara Zetkin, Franz Mehring) und ein Netzwerk junger proletarischer Autoren (Gerrit Engelke, Karl Bröger). Auch bürgerliche Kritiker entwerfen Ästhetiken einer zukunftsweisenden Arbeiterdichtung (Julius Bab, 1924).
Im Zentrum dieser Poetologien steht die Kategorie einer ästhetischen Kraft, die literarischen und sozialen Widerstand verbindet. Ziel des Projekts ist es, diese klassenspezifische Kraft diskurshistorisch zu konturieren. Im Fokus stehen drei Komplexe, in denen sich um 1900 ästhetische und soziopolitische Überlegungen verschränken: 1) der Primitivismus, in dessen Folge die ‚kraftvolle‘ Kunst von sogenannten Naturvölkern und Arbeitern parallelisiert wird, 2) die Nationalökonomie, die das kreative Potenzial körperlicher Arbeitsrhythmen erforscht, 3) Diskurse zum Verhältnis von Mensch und Maschine, die neue Entwürfe proletarischer Körper- und Sprachkraft hervorbringen.
Forschungsergebnisse: Ästhetische Klassenkämpfe. Kraftdiskurse der Arbeiterdichtung um 1900
Die dichotome Zuschreibung von Kraft und Schwäche zu den sozialen Klassen gehörte zum argumentativen Grundbestand für Ansätze einer proletarischen Literaturästhetik um 1900. Das Forschungsprojekt konnte zeigen, wie eng entstehende Poetologien der Arbeiterdichtung mit den Dekadenzdiskursen des Fin de Siècle verschränkt waren, auf die sie sich antagonistisch bezogen. Zentrale Persönlichkeiten der deutschen Sozialdemokratie deuteten die literarischen Tendenzen der Zeit, Phänomene schwindender Kräfte zu thematisieren – kulturell, körperlich und geistig –, als Zeichen für einen alleinigen Verfall des Bürgertums, schrieben dem Proletariat dagegen unverbrauchte kulturelle Kraftreserven zu und initiierten damit einen breiteren poetologischen Diskurs über Arbeiterdichtung.
Während der Gegensatz von ‚kraftlosem‘ Bürgertum und ‚kraftvollem‘ Proletariat vor diesem Hintergrund gesetzt war, variierten die entwickelten Kraftästhetiken der Arbeiterdichtung. Das Projekt konnte zeigen, dass sozialdemokratische Politikerinnen und Politiker wie Clara Zetkin und Franz Mehring geschichtsphilosophische Narrative des Marxismus (Aufstieg und Niedergang von Klassen) mit Konzepten vitalistischer Lebenskraft koppelten; dagegen begründete der bürgerliche Literaturkritiker Julius Bab die „Formkraft“ der Arbeiterdichtung mechanistisch mit der Übersetzung von technischen Kräften in Literatur und stand damit Mensch-Maschine-Konzepten der Werkleute Nyland in Westfalen nahe.
Von diskursübergreifender Relevanz war der Bezug auf primitivistische Ästhetiken, der erlaubte, der Arbeiterdichtung analoge primordiale Kräfte zuzuweisen wie der Kunst indigener Völker, von der sich zeitgleich viele Strömungen der Bildenden Kunst inspirieren ließen. Dieser Befund setzt die Kraftästhetiken der Arbeiterdichtung in eine überraschende Beziehung zur künstlerischen Moderne, die in einem Vortrag auf der Tagung „Die Kraft der Avantgarden“ (2026) weiter erkundet werden soll.