Prof. Dr. Claudia Nitschke
Vita
Claudia Nitschke studierte Neue Deutsche Literatur und Geschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen (M.A. 1998), wo sie 2003 mit einer Arbeit zu 'Die Welt im Sprung. Krieg und Utopie bei L. Achim von Arnim' promoviert wurde. Nach ihrer Tätigkeit als wissenschaftliche Angestellte in Tübingen war sie bis 2010 Praelector am Lincoln College und Stipendiary Lecturer am Somerville College, University of Oxford. Sie wurde 2011 in Tübingen mit einer Arbeit zu 'Der öffentliche Vater. Konzeptionen paternaler Souveränität in der deutschen Literatur (1751–1921)' habilitiert und trat im selben Jahr eine Stelle an der Durham University an, wo sie seit 2016 Inhaberin eines Lehrstuhls für Germanistik ist.
Zu ihren Forschungsinteressen gehören die Environmental Humanities; Fragen zu Literatur und Recht und Eigentum; Utopien; Konzepte von Nationalismus und Souveränität in der Literatur, Gegenwartsliteratur; Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, besonders Aufklärung, Goethezeit, Romantik und Realismus.
Publikationen (Auswahl)
- (2020). Anerkennung und Kalkül. Literarische Gerechtigkeitsentwürfe im gesellschaftlichen Umbruch (1773-1819). Paderborn: Wilhelm Fink.
- (2012). Der öffentliche Vater. Konzeptionen paternaler Souveränität in der deutschen Literatur (1751-1921). Berlin: De Gruyter (Hermaea).
- (2014). 'Das natürliche System des Marktes. Lessings Nathan der Weise und Adam Smiths Wealth of Nations', in Gastlichkeit und Ökonomie. Wirtschaften im deutschen und englischen Drama des 18. Jahrhunderts, hg. von Nieberle, Sigrid und Nitschke, Claudia. Berlin: De Gruyter: S. 177–202.
- (2021). ‘Metaphorical Contracts and Games: Goethe’s Götz von Berlichingen and Schiller’s Fiesco’, Law & Literature (open access).
- (2022). Settled and Unsettled Spaces: Property and Ecological Networks in Sophie von La Roche’s Erscheinungen am See Oneida. The Germanic Review: Literature, Culture, Theory, 97(2), S. 134–152.
Forschungsvorhaben: Metabolismus und Privateigentum im langen 18. Jahrhundert: Lockes Vorstellung von 'transformativen Kräften' und ihre Rezeption in der deutschen Literatur
John Lockes (1632–1704) maßgebliche Überlegungen zum Eigentumsbegriff in der 'Zweiten Abhandlung über die Regierung' sind bis heute Gegenstand intensiver Debatten, insbesondere im Hinblick auf ihre Verbindungen zu kolonialen Ideologien und Praktiken. In diesem Projekt soll der Fokus auf Lockes zentralem Rückgriff auf physische Vorgänge und Körpermetaphern liegen, etwa auf metabolischen Prozessen wie der irreversiblen Aneignung durch Nahrungsaufnahme. Im Zentrum steht die dem Körper zugeschriebene transformative Kraft: Locke argumentiert, dass „alles, worin [der Mensch] seine Arbeit vermischt und dem er etwas Eigenes hinzugefügt hat“, zu seinem Eigentum wird. Mit dieser Transformationsleistung unterstreicht Locke zudem eine dynamische Verbindung zwischen Individuen (und Kollektiven) und der sie umgebenden, nicht-menschlichen Natur.
Ausgehend von diesen Prämissen soll untersucht werden, wie Lockes einflussreiche Theorie im langen 18. Jahrhundert literarisch rezipiert und adaptiert wurde: Wie wurden diese Rechtfertigungen von Eigentum verstanden, akzeptiert, angewendet und angepasst? Inwiefern erschienen sie als „natürlich“ oder selbstverständlich? Welche grundlegenden Erkenntnisse über ökologische Systeme lassen sich aus Lockes Theorien ableiten? Und welchen Einfluss hatten Lockes Überlegungen zu Arbeit und metabolischer Aneignung auf das zunehmende ‘ökologische’ Verständnis der Natur um die Jahrhundertwende?
Forschungsergebnisse: Metabolismus und Privateigentum im langen 18. Jahrhundert: Lockes Vorstellung von 'transformativen Kräften' und ihre Rezeption in der deutschen Literatur
Die Zeit im Kolleg bot mir die Möglichkeit zu erarbeiten, wie Lockes Theorie in den Robinsonaden der Aufklärung und in literarischen Texten zum Bergbau in der Romantik rezipiert und adaptiert wurde. Ausgehend von Verschiebungen in der Locke’schen Mixing-Theorie lässt sich in den späteren literarischen Auseinandersetzungen eine Verschiebung hin zu einem relationalen Umweltverständnis beobachten. Lockes Arbeitstheorie des Eigentums hat auch im deutschen Kontext besondere Bedeutung, da sie zentral auf einer Verbesserungsvorstellung (Improvement) aufruht, was sich als hochkompatibel mit aufklärerischen Kernvorstellungen von Fortschritt und Bildung erweist und auch in der Kunstperiode anschlussfähig bleibt. Eigentum wird hier als eine relationale Beziehung zur Natur verstanden, wobei letztere durch Arbeit aufwertet, geformt und ‘verbessert’ wird, ganz im Sinne des aufklärerischen Fortschrittsideals.
Es fällt auf, dass Lockes Ansatz zwar gespiegelt, zugleich aber durchgreifend moralisiert wird: Arbeit als legitime Aneignungsform hat nur Bestand, wenn sie als moralische Aufgabe neu konzipiert wird, die sich nur durch angemessene, d.h. von Wissen und Ethos geleitete Auseinandersetzung mit der natürlichen Welt rechtfertigen lässt. In den Texten der Romantik werden die Mixing-Vorstellungen von Locke dann nochmals radikal weiter entwickelt. Lockes rigide Subjekt-Objekt-Dichotomie der Eigentumstheorie hat dabei keinen Bestand: Natur erscheint nicht länger als passives, zu beherrschendes Objekt, sondern als ein aktives, widerständiges Gegenüber, das Besitzansprüche unterminiert. Die Grenzen zwischen Selbst und Umwelt, Mensch und Natur müssen als Folge beständig neu aushandelt werden. In E.T.A. Hoffmanns ‘Die Bergwerke zu Falun’ wird überdies explizit an die Metapher der Verdauung angeknüpft, wobei die Bildsprache invertiert wird: Der Mensch steht hier einer größeren Entität gegenüber, die droht, ihn zu verschlingen. Diese Umkehrung destabilisiert die entscheidende Hierarchie, auf der sich Lockes Rechtfertigung von Eigentum gründet; diese geschieht im romantischen Kontext nicht nur in einem kapitalismuskritischen Gestus, sondern auch mit Blick auf einen als problematisch erfahrenen, extraktivistischen Umgang mit der Umwelt.