Dr. Jana Schuster
Foto: Jörg Heupel
Vita
Jana Schuster lehrt und forscht als Literaturwissenschaftlerin am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Ihr Habilitationsprojekt widmet sich der Ästhetik und Anthropologie der Erdatmosphäre in deutschsprachiger Literatur sowie Philosophie und Kunsttheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Nach dem Studium der Germanistik und Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und am King’s College London wurde sie an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit zu Rainer Maria Rilkes Poetik der Bewegung (Freiburg i.Br.: Rombach, 2011) promoviert und war Postdoc Fellow an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien Berlin. Schwerpunkte ihrer Forschung bilden Lyrik; trans- und intermediale Ästhetik von Raum, Zeit und Bewegung; Literatur und Wissen (Meteorologie, Geologie, Kosmologie); Anthropologie und Ästhetik der (Erd-)Atmosphäre.
Publikationen (Auswahl)
- Josephe Maria Asteron. Kleists koloniale Heilsgeschichte. In: DVjs 96/4 (2022), S. 361-409. https://doi.org/10.1007/s41245-022-00149-7.
- Meteorologie/Mediologie. Luft in der Lyrik des 18. Jahrhunderts. In: Urs Büttner/Michael Gamper (Hg.): Verfahren literarischer Wetterdarstellung. Meteopoetik – Literarische Meteorologie – Meteopoetologie. Berlin 2021, S. 43-68. https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110624489-003/html.
- Maß und Gesetz des Unmerklichen. Kraft, Zeit und Intensität bei Stifter. In: Davide Giuriato/Sabine Schneider (Hg.): Stifters Mikrologien. Stuttgart 2019, S. 31-53. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04884-4_3.
- Zeit und Zeiten in Stifters Nachsommer (= Jahrbuch des Adalbert-Stifter-Instituts des Landes Oberösterreich JASILO 28/2021). Linz 2021. (Hg.)
- Zeiten der Materie. Verflechtungen temporaler Existenzformen in Literatur und Wissenschaft (1770-1900). Hannover 2021. (Hg. mit Alexander Kling)
Forschungsvorhaben: Atmosphärische Lichtdiffusion als Urphänomen des Ästhetischen
Als erstes natürliches Medium des Lichts ist die Erdatmosphäre die Figur einer doppelten Latenz, insofern die durchsichtige Luft und das im All unsichtbare Licht nur aneinander in Erscheinung treten. Nicht erst in Wolken, Dunst und Nebel, vielmehr schon in Himmelblau, Morgen- und Abendrot gewinnt das atmosphärische Reservoir unmerklich wirksamer Kräfte und grenzmaterieller Stoffe eine aisthetische Markanz, deren subtile transitorische Lichteffekte sich in der neuzeitlichen Landschaftsmalerei als das Unverfügbare des Ästhetischen selbst zu erkennen geben. Das Projekt untersucht, wie die atmosphärischen Licht- und Farbspiele der Malerei darin zur Schule für die Theoriebildungen der philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert werden und welche Konkretisierungen zum aistheton und gar zum Paradigma des Ästhetischen die bis dato in diskursiver Latenz gehaltene Atmosphäre schließlich um 1800 bei Herder und Goethe erfährt.
Forschungsergebnisse: Atmosphärische Lichtdiffusion als Urphänomen des Ästhetischen
Die um 1800 vieldiskutierten ‚Kräfte‘ Licht, Wärme, Elektrizität und Magnetismus haben erdgeschichtlich einen ersten Ort: die Erdatmosphäre, die Herder im naturgeschichtlichen Eingangsteil der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit als „Inbegriff“ aller sinnlichen Phänomene jener meist latenten Kräfteverhältnisse auffasst. Im Sinne Sloterdijks wird damit ein Wissen der ‚Atmosphäre‘ – ein erst im 17. Jh. in der astronomisch fundierten Optik kreiertes Kunstwort – explizit, das die neuzeitliche Malerei schon seit Leonardo für die Lichteffekte der Luft elaboriert.
Im Rahmen klassischer rhetorischer evidentia-Argumente wandert diese malerische Expertise auch in die philosophische Ästhetik ein. Baumgarten stellt dem Bereich des Logischen die genuine ‚Sphäre‘ des ‚ästhetischen Horizonts‘ mit einem gegenüber rationaler Scharfsichtigkeit gedämpften, dafür umso lebendigeren ‚ästhetischen Licht‘ gegenüber, dessen Sinnbild die vom Dunkel der Nacht zum hellen Mittag überleitende Morgenröte (aurora) ist. Die klar-konfuse Erkenntnis des Ästhetischen nach Leibniz findet ihr naturgesetzliches Analogon damit im atmosphärisch-diffusen Licht.
Anschaulich-konkret wird Baumgartens lux aesthetica bei Herder, der die Morgenröte in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts als Medium einzig menschenfreundlicher Parusie göttlichen Lichts feiert. Das atmosphärische ‚Urphänomen‘ ist hier Paradigma eines Ästhetischen, das sich – gemäß den petites perceptions bei Leibniz und der ‚extensiven Klarheit‘ bei Baumgarten – in unaufhörlicher, energetisch „sanftsteigender Progression“ entfaltet und daher vorzüglich im sukzessiv verfassten Medium der Dichtung zum Ausdruck kommt.
Entsprechend figuriert auch Goethes kosmogonisches Divan-Gedicht Wiederfinden den Anbruch des Ästhetischen in der Morgenröte, die „dem Trüben / Ein erklingend Farbenspiel“ bzw., in den aristotelischen Termini der Farbenlehre, dem Diaphanen die Farbe als den actus des Lichts entlockt. Wenn schließlich William Turner Light and Colour als Elementarereignisse der Malerei in ihrem Aufleuchten in Luft und Wasser vorführt, wird – in neuerlich kosmogonischem, postdiluvischem Szenario – die Atmosphäre als hochenergetische, nun thermodynamisch konzipierte Geburtsstätte des Ästhetischen einsichtig.