Prof. Dr. Birgit Meyer
Foto: Pooyan Tamimi Arab
Vita
Birgit Meyer ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Utrecht. Als ausgebildete Kulturanthropologin untersucht sie Religion aus einem materiellen und postkolonialen Blickwinkel wobei sie Feldforschung und theoretische Reflexion in einem multidisziplinären Rahmen zu verbinden trachtet. Ein zentrales Anliegen ihrer Forschung ist ein besseres Verständnis der sich wandelenden, diversen Erscheinungsformen von Religion in unserer Zeit. Ihre wissenschaftlichen Arbeiten richten sich auf Mission und Kolonialismus in Afrika; Modernität und Bekehrung; den Aufstieg der Pfingstkirchen im neoliberalen Zeitalter; die Beziehung zwischen Medien, Religion und Identität; die Schaffung von Kulturerbe; materielle Religion sowie die öffentliche Rolle der Religion in Westafrika und Nordeuropa. Ihre Forschungen in Ghana sind eingebettet in ihr Interesse an konzeptionellen Fragen im Zusammenhang mit den vielfältigen Erscheinungsformen von Religion in Vergangenheit und Gegenwart, dem Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen religiösen, ethnischen und kulturellen Hintergründen sowie den Auswirkungen kolonialer Verstrickungen in unserer Zeit. Charakteristisch für ihre Arbeit ist die Auseinandersetzung mit den körperlichen, materiellen und politisch-ästhetischen Dimensionen von Religion aus einer anthropologischen Perspektive. Dieser Ansatz wird in dem Forschungsprogramm Religious Matters in an Entangled World (https://religiousmatters.nl/) entwickelt, das sie seit 2017 leitet. Visuelle Kultur und religiöse Artefakte spielen in ihrer Arbeit eine zentrale Rolle. Kürzlich begann sie ein kollaboratives Projekt zur Untersuchung kolonialer Missionssammlungen ethnografischer und anderer Sammlungsstücke in Museen in Deutschland und den Niederlanden.
Publikationen (Auswahl)
- Religion and Materiality: Food, Fetish and Other Matters, in: Elwert, Frederik / Freudenberg, Maren / Karis, Tim / Radermacher, Martin / Schlamelcher, Jens (Hg.): Stepping Back and Looking Ahead: Twelve Years of Studying Religious Contact at the Käte Hamburger Kolleg Bochum, Leiden 2023, S. 267–301, https://brill.com/display/title/62358.
- What is Religion in Africa? Relational Dynamics in an Entangled World, in: Journal of Religion in Africa 50/1-2 (2021), S. 156–181, https://doi.org/10.1163/15700666-12340184.
- Religion as Mediation, in: Entangled Religions 11/3 (2020), 21 Seiten, https://doi.org/10.13154/er.11.2020.8444.
- Meyer, Birgit / Stordalen, Terje (Hg.): Figurations and Sensations of the Unseen in Judaism, Christianity and Islam: Contested Desires, London 2019, https://www.bloomsburycollections.com/book/figurations-and-sensations-of-the-unseen-in-judaismchristianity- and-islam-contested-desires/.
- Korte, Anne-Marie / Kruse, Christiane / Meyer, Birgit (Hg.): Taking Offense. Religion, Art, and Visual Culture in Plural Configurations, München 2018, https://www.fink.de/katalog/titel/978-3-7705-6345-6.html.
Forschungsvorhaben: Imaginarien der Kräfte in kolonialen und postkolonialen Grenzbereichen: die ‚Legba-Dzoka Sammlung‘
Religion, wie auch immer definiert, beinhaltet die Verwendung greifbarer Formen, um eine Verbindung zu einer imaginierten Realität hervorzurufen, die von den Beteiligten als jenseits des Gewöhnlichen oder als transzendent wahrgenommen wird. In den kolonialen Begegnungen zwischen indigenen Völkern und westlichen Händlern, Verwaltern, Missionaren und Anthropologen fanden solche Formen unter den Begriffen ‚Fetisch‘ und ‚Götze‘ große Beachtung. In den europäischen Museen wurden derartige Artefakte schließlich als ‚Kraftobjekte‘ benannt. Diese Artefakte befinden sich an kolonialen und postkolonialen Schnittstellen kollidierender Imaginarien der Kräfte. Was macht solche Artefakte kraftvoll? Welche Kräfte sind je nach den unterschiedlichen - missionarischen, westlich-rationalen, indigenen - Kosmologien und Epistemologien, in die diese Artefakte eingebunden sind, beteiligt? Wohin führen die Verbindungen mit solchen Kräften? Wie kann man über einen oberflächlichen Begriff wie ‚Kraftobjekt‘ hinausgehen, indem man die Idee einer Kraft, die ein Artefakt innehat, ernst nimmt? Hintergrund meines Projekts in Hamburg ist das transregionale und multidisziplinäre Legba-Dzoka-Forschungsprojekt, das die Herkunft einer missionarischen Sammlung von Artefakten der Ewe (Süd-Ghana und Togo) untersucht und sich dabei auf die ‚Legba‘-Figuren und ‚Dzokawo‘ (‚Zauberschnüre‘) richtet, die seit mehr als 120 Jahren im Übersee-Museum aufbewahrt werden. Bislang habe ich die verfremdende Darstellung dieser Artefakte auf ihrem Weg von Westafrika nach Bremen auf der Ebene der Begriffe verfolgt. Mein Fellowship in Hamburg ist gerichtet auf die materielle Semantik von Kraft bei den ‚Legba‘-Figuren und ‚Dzokawo‘, sowie bei den kolonialen und christlichen Konzepten wie ‚Götze‘, ‚Fetisch‘, ‚Zauberei‘, ‚Magie‘, in die diese Artefakte entführt wurden. Auf diese Weise möchte ich dazu beitragen, die Idee der Imaginarien der Kraft auf eine kritische Untersuchung der postkolonialen Konfigurationen auszuweiten, zu denen ‚Legba‘-Figuren und ‚Dzokawo‘ gehören und die diese uns zugleich vom Vektor der Kraft zu entschlüsseln helfen.
Forschungsergebnisse: Imaginarien der Kräfte in kolonialen und postkolonialen Grenzbereichen: die ‚Legba-Dzoka Sammlung‘
Mein Fellowship ermöglichte es mir, eine Sammlung von „spirituellen Artefakten“ im Übersee-Museum Bremen, die einen aktuellen Schwerpunkt meiner Forschung bildet, in einem neuen Licht zu betrachten. Die Artefakte wurden von einem protestantischen Missionar um 1900 aus dem Ewe-sprachigen Gebiet (heute Süd-Togo und Süd-Ost-Ghana), wo die Mission christliche Konvertiten gewinnen wollte, die ihre einheimischen spirituellen Artefakte ablegen sollten, nach Bremen gebracht. Im Mittelpunkt stehen die dzokawo: Schnüre, die verschiedene Elemente (Pflanzenteile, Tiere, Steine, Pulver usw.) zum Schutz und zur Erreichung bestimmter Ziele zusammenbinden und verknoten. Ausgehend von einem materiellen und transregionalen Ansatz zur Religion unter kolonialen und postkolonialen Bedingungen versucht mein Projekt, konventionelle Ansätze zu materiellen Formen, die als „Götzen “ und „Fetische“ missverstanden werden, zu dekonstruieren. Es geht darum, neue Rahmen zu entwickeln, die diesen Artefakten jenseits der latenten kolonialen Auffassungen andere Bedeutungen verleihen. Das Konzept der Kraft, die als an sich unsichtbar verstanden wird und daher durch materielle Formen vermittelt werden muss, eröffnete mir neue Möglichkeiten, die Wirkungen und die „agency “ der dzokawo als eine grundlegende Art des Eingreifens in die Welt zu konzeptualisieren. Während sich das Kolleg selbst bisher hauptsächlich auf Genealogien von Kraft/Energie in Europa konzentriert hat, konnte mein Projekt von der bisher geleisteten methodischen und konzeptionellen Arbeit profitieren und neue Forschungsfragen aufwerfen. Gleichzeitig war es erfreulich zu sehen, dass mein Projekt eine breitere Diskussion mit WissenschaftlerInnen anregen konnte, deren Hauptkompetenz in der europäischen Geschichte liegt. Aus den Gesprächen in unseren Kolloquien, Lektüreseminaren, informellen Gesprächen und Exkursionen habe ich viele Impulse mitgenommen und trage das Konzept der Kraft nun in meine weitere Arbeit zur Aufarbeitung von Kolonial- und Missionssammlungen in ethnologischen und anderen Museen. Vielen Dank an alle, die mir diese Einblicke ermöglicht haben!