Dr. Kira Jürjens
Vita
Kira Jürjens ist Literaturwissenschaftlerin mit Schwerpunkten in Literatur- und Wissensgeschichte, literarischen Raumdarstellungen sowie den Zusammenhängen von Literatur und materieller Kultur.
Sie studierte deutsche Literatur und Kunstgeschichte in Berlin und Paris. Ihre Dissertation zu Textilien in literarischen Innenräumen des 19. Jahrhunderts entstand im SNF-Projekt „Interieur und Innerlichkeit“ an der Université de Lausanne und ist 2021 im Böhlau-Verlag erschienen.
Seit 2019 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Aktuell arbeitet sie an einem Habilitationsprojekt zur Kompression als literarischer Denkfigur.
Publikationen (Auswahl)
- mit Ulrike Vedder (Hg.): Kataloge. Medien und Schreibweisen des Verzeichnens. Zeitschrift für Germanistik, NF XXXII, H. 1 (2022).
- Überhitzte Räume. Wärmelehre des Luxus (Alexandre Dumas fils und Zola), in: Orte des Überflusses. Topographien des Luxuriösen, hg. von Maria Magnin, Raphael Müller und Hans-Georg von Arburg, Berlin: De Gruyter 2022, S. 177–212.
- Der Stoff der Stoffe. Textile Innenräume in der Literatur des 19. Jahrhunderts, Köln/Weimar: Böhlau 2021.
- Ein weiteres Kleid: Häuslich-Textile Umwelten im 19. Jahrhundert, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 29,1 (2021), S. 11-43.
- mit Lena Abraham, Edith Anna Kunz und Elias Zimmermann (Hg.): Fenster – Treppe – Korridor. Architektonische Wahrnehmungsdispositive in der Literatur und in den Künsten, Bielefeld: Aisthesis 2019.
Forschungsvorhaben: Dichte. Kompression als literarische Denkfigur
Das Forschungsprojekt zielt darauf, in Literatur und Poetik verhandelte Konzeptionen von Dichte anhand von Figuren, Szenarien und Praktiken der Kompression historisch und systematisch zu konturieren und in ihrer Verflochtenheit mit chemisch-physikalischem, psychologischem, physiologischem und soziologischem Wissen zu untersuchen. Dem liegt die Beobachtung zugrunde, dass sich ästhetische und poetische Qualität seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. zunehmend in Abhängigkeit von Dichtephänomenen und Verdichtungsoperationen definiert.
Dies verknüpft sich eng mit Form- und Gattungsfragen: Die Kategorie ,Dichte‘ wird gerade in dem Moment virulent, in dem formale Kriterien der Regelpoetik aufgebrochen werden und Prosaformen in ihrer ungebundenen Breite ihren Platz im Gattungssystem behaupten müssen. Dabei gewinnen Dichte und Verdichtung auch und gerade auf der Handlungsebene literarischer Texte an kompensatorischer Relevanz und werden in (proto-)thermodynamischer Logik als Voraussetzung für die Ausbildung von Einbildungs- und Darstellungskraft inszeniert.
In vier Themenblöcken befasst sich das Projekt mit den Zusammenhängen von (1) (poetischer) Wärme, Kraft und Dichte seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, (2) der Metaphorik und Motivik von verdichteter Materie (Brühwürfel, Brilliant und Brikett) als poetischem und chemisch-physikalisch wirksamem Kraftspeicher und -spender, (3) der Verhandlung von Zeit- und Erlebnisdichte um 1900 sowie (4) Topologien der Dichte, wie sie den Großstadt- und Wohndiskursen des 20. Jh. entworfen werden.
Forschungsergebnisse: Dichte. Kompression als literarische Denkfigur
Die Rede von ,dichter Dichtung‘ ist so verbreitet wie unbestimmt. Dabei besteht keine etymologische Verbindung zwischen den auf unterschiedliche Wurzeln zurückgehenden Begriffen. Wenn um 1800 poetische Qualität mit einem Zustand von Dichte und Operationen der Verdichtung assoziiert wird, dann speist sich die kulturelle Durchsetzungsfähigkeit dieser Denkfigur nicht allein aus der lautlichen Ähnlichkeit des Wortspiels, sondern ist im größeren Rahmen wissensgeschichtlicher Verflechtungen zu betrachten.
In der antiken Naturphilosophie bildet Verdichtung einen grundlegenden Veränderungsprozess, mit dem sich die jeweils auf einen Urstoff zurückgeführten unterschiedlichen Naturerscheinungen erklären lassen. Verdichtung fungiert dabei als formendes Prinzip mit eigenem Schöpfungs- und Verwandlungspotential, worin ihre besondere Attraktivität für poetische Konfigurationen besteht. Als relationale Größe und qualitatives Korrelat zur Masse widersetzt sich Dichte noch im Rahmen der Physik und (Al-)Chemie des 17. und 18. Jahrhunderts (van Helmont, von Guericke, Mariotte, Boyle, Lavoisier) der reinen Quantifizierung. Verdichtung etabliert sich um 1800 zu einem kraft- und formspendenden Universal- und Universalisierungsprinzip und tritt eine steile Karriere durch die unterschiedlichen Wissensformationen an.
In einer Bildlichkeit, die an die chemisch-physikalischen Experimentalanordnungen erinnert, gewinnt die Denkfigur der Verdichtung – noch vor ihrer begrifflichen Verbindung mit der Dichtung in den Wortspielen der Romantik – als Operation zur Zusammenfügung von Wahrnehmungsdaten, Stoffmassen und Gegenstandsfülle zu einem ,schönen Ganzen‘ bereits in der ästhetischen Diskussion um 1750 (Bodmer, Breitinger, Baumgarten, Meier und Sulzer) an Bedeutung. Verdichtung wird dabei zur entscheidenden Operation, um der Gefahr von Zersplitterung und Zerstreuung entgegenzuwirken, die mit der Erweiterung des künstlerischen Wahrnehmungsfeldes um die ,unteren Sinnesvermögen‘ einhergeht. Besondere Relevanz kommt dabei Szenarien und Figuren einer gleichzeitig ,auf einen Blick‘ erfassbaren Mannigfaltigkeit sowie Metaphern des Diamanten oder des Brennpunktes zu. Wenn Dichte und Verdichtung schließlich zu zentralen Elementen in den Kulturtheorien des 19. und 20. Jahrhunderts werden, dann handelt es sich dabei nicht einfach um die Adaption eines physikalischen Begriffes. Vielmehr wird damit auch ein nicht zuletzt ästhetisches Konzept aufgegriffen, das seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein genauer zu untersuchendes literarisches Eigenleben entwickelt hat.