Prof. em. Dr. Hartmut Böhme
Vita
Hartmut Böhme, 1977-92 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Universität Hamburg; 1993-2012 Professor für Kulturtheorie und Mentalitätsgeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin; Gastprofessuren u.a. in den USA, Italien und in Japan; Sprecher des SFB „Transformationen der Antike“ (2005-12); Träger des Meyer-Struckmann-Preises 2006 und des Hans-Kilian-Preises 2011.
Publikationen (Auswahl)
Buchveröffentlichungen seit 2010: Aussichten der Natur, 2016. – Natur und Figur. Goethe im Kontext, 2016. – (mit Beate Slominski, Bernd Kordaß Hg.): Das Dentale. Faszination des oralen Systems in Wissenschaft und Kultur, 2015. – Fetishism and Culture. A different Theory of Modernity, 2014. – (mit Beate Slominski Hg.): Das Orale. Die Mundhöhle in Kulturgeschichte und Zahnmedizin, 2013. – (mit U.C.A. Stephan, Werner Röcke): Contingentia. Transformationen des Zufalls, 2015. – Der anatomische Akt. Zur Bildgeschichte und Psychohistorie der frühneuzeitlichen Anatomie, 2012. – (Hg.): Transformation: Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, 2011. – (mit Claudia Benthien, Inge Stephan hg.): Sigmund Freud und die Antike, 2011. – (mit Marco Formisano hg.): War in Words. Transformations of War from Antiquity to Clausewitz, 2010. – (mit Natascha Adamowsky, Robert Felfe hg.): Ludi Naturae. Spiele der Natur in Kunst und Wissenschaft, 2010. – (mit Georg Toepfer hg.): Transformationen antiker Wissenschaften, 2010. – (mit Johannes Endres hg.): Der Code der Leidenschaften. Fetischismus in den Künsten, 2010. https://www.hartmutboehme.de/
Forschungsvorhaben: Morphologie. Die Kraft der Form – die Kräfte hinter den Formen
Der Titel enthält zwei Zitate: der erste Teil ist ein Zitat von Goethe; der zweite Teil ist der Titel einer Kunst-Ausstellung 2016/17. Einmal geht es darum, dass Formen – in der Natur, in den Künsten – Evokationen, Wirkungen, Agency zeigen, also Kräfte, so sehr sie auch als stillgestellte, kristallisierte Gebilde gelten mögen. Zum anderen sind Formen selbst Effekte von Kräften, deren Manifestitationen, Entäußerungen, Objektivationen sie sind. Es gibt keine Kraft, die nicht Formen erzeugt; und keine Form, die nicht dynamis, also Wirkungspotenzen zeigt. Beide Seiten sind aber ziemlich schlecht erklärt, obwohl die Diskurse darüber Jahrhunderte alt sind. Im Kontext meiner Vorhaben zur Naturästhetik, konzentriere ich mich auf eine Transformationsphase, die mit den Lebensdaten von Alexander von Humboldt zusammenfällt, um das Immanent-Werden von organischen und ästhetischen Kräften zu untersuchen. Humboldt und Goethe sind meine Hauptreferenten – und mit ihnen auch solche Gelehrte, die für beide einflussreich waren, wie z.B. Forster, Herder, Kant, Kielmeyer, Blumenbach, Carus, Burdach, Schelling. Bei beiden geht es weniger um physikalische Kräfte, die im Rahmen der Newtonschen Mechanik kanonisch waren, auch nicht vordringlich um die Entdeckungen der elektrischen und chemischen Kräfte. Vielmehr werden solche Krafttypen wichtig, die für lebende Entitäten charakteristisch sind, also die vor allem die Lebenskraft. Humboldt wie Goethe gehen indes auch davon aus, dass Zeichen, die Bedeutung codieren, ausdrücken und kommunizieren, darin selbst Kraftäußerungen sind und bei Rezipienten als solche auch gespürt, erlebt und verstanden werden. Welche Konzepte von (performativer) Kraft werden in der zeitgenössischen Semiotik und Sprachtheorie als Merkmale der Sprache selbst entdeckt, etwa bei Vico, Locke und Wilhelm von Humboldt?
Forschungsergebnisse: Morphologie. Die Kraft der Form – die Kräfte hinter den Formen
Während des Gastaufenthalts habe ich zu folgenden Fragestellungen gearbeitet:
1. Morphologie
Formen – in der Natur, in den Künsten – gelten in alltäglicher Wahrnehmung als stillgestellte Gebilde, zeigen aber auch Wirkungen, Agencies, Evokationen bewegender Kräfte. Andererseits sind Formen selbst Effekte von Kräften, deren Manifestationen oder Objektivationen sie sind. Es gibt keine Kraft, die nicht Formen erzeugt; und keine Form, die nicht dynamis zeigt.
Im Kontext meiner Vorhaben zur Naturästhetik, konzentrierte ich mich auf die Transformationsphase, die mit dem Zeitalter Alexander von Humboldts zusammenfällt. Sind Humboldt und Goethe zwar die Hauptreferenten, so wurden Gelehrte herangezogen wie z.B. Forster, Herder, Kant, Blumenbach, Kielmeyer, Reil, Carus, Burdach, Schelling. Der Fokus lag auf solchen (neuen) Krafttypen, die für lebende Entitäten als charakteristisch angenommen wurden, vor allem die Lebenskraft. Ferner werden Konzepte von Kraft auch in der zeitgenössischen Semiotik und Sprachtheorie entdeckt – als Merkmale der Sprache selbst, etwa bei Vico, Locke, Herder und W. v. Humboldt.
2. Kraftbegriff bei Goethe im Verhältnis zur Form
Die „proteische Wandelbarkeit der Formen“ (so Goethe) findet Halt in der Allgemeinheit des Typus. Dabei ist ‚Gestalt’ (morphé) kein statischer Begriff, sondern jede Bildung ist ein Moment im Kontinuum der Umbildungen. ‚Gestalt’ ist polar geprägt. Was an ihr stabil ist, erlaubt die Wiedererkennbarkeit eines Exemplars; was an ihr variabel ist, erlaubt zahllose Modifikationen bis hin zur Metamorphose.
Morphologie bestimmt Goethe als „das bewegliche Leben der Natur“. Erstens ist Morphologie von der Logik des lebendigen Organismus her gedacht, der sich selbst zugleich Ursache und Wirkung, mithin selbstorganisiert ist. Und zweitens wird jede äußere Zweckmäßigkeit der Entitäten abgelehnt. Diese sind Zwecke in sich selbst.
Es gilt eine doppelte Matrix: Zum einen konstruiert man Natur in der Form der gesetzlichen Einheit ihrer Erscheinungen (Naturwissenschaft); zum anderen deutet man Natur nach den Typen ihrer variierenden Gestaltwerdung (Naturästhetik).
In dieser Doppelperspektive sind Humboldt und Goethe zu lesen. Sie zweifeln nicht an der Wahrheitskraft von Kausalität: diese ist unsere Form, das Überleben in der Natur zu sichern. Doch die Natur – wie wir selbst – verfährt auch ästhetisch und zeigt „die Ausdrucksvielfalt der lebendigen Natur“ (J. H. Reichholf).
Einen gemeinsamen Bezugspunkt finden Humboldt und Goethe in J. F. Blumenbach (Über den Bildungstrieb …, 1781) und seiner Einführung des nisus formativus. Was sind die Kräfte, die Lebendiges generieren, ihm Form geben und es reproduzierbar machen? Der Bildungstrieb ist eine Elementarkraft, die allen Kräften organischer Körper zugrunde liegt: Generation, Nutrition und Reproduktion. Der Bildungstrieb ist die Bedingung dafür, dass „bey einer so unaufhörlichen Zerstörung von der einen und eben so unaufhörlich fortgesetzten Wiedererzeugung von der andern Seite“ die Morphologie der Gestalt andauert.