Prof. Dr. Johannes Lehmann
Vita
Johannes F. Lehmann ist seit 2014 Professor für Neuere deutsche Literatur- und Kulturwissenschaften an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn. Promotion in Freiburg mit der Arbeit "Der Blick durch die Wand. Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing." Freiburg i. Br. 2000; Habilitation in Duisburg-Essen: "Im Abgrund der Wut. Zur Kultur- und Literaturgeschichte des Zorns". Freiburg i. Br. 2012 (Rombach: Litterae 107). Forschungsschwerpunkte: Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, kulturwissenschaftliche Fragen zur Genealogie der Moderne: Theater, Anthropologie, Lebenskraft, Recht, Zorn, Rettung, Gegenwart.
Publikationen (Auswahl)
- Leben, Arbeit, Tod – zur literarischen Bedeutung von Dingen und Steinen bei Homer, Schiller, Flaubert und Kafka. In: Res und Verba. Zu den Narrativen der Dinge. Hg. von Alexander Kling und Martina Werrnli. Freiburg i. Br. 2018, S. 225-240.
- Aktualität. Zur Geschichte literarischer Gegenwartsbezüge vom 17. bis zum 21. Jahrhundert. Hg. von Stefan Geyer und Johannes F. Lehmann. Hannover: Wehrhahn 2018.
- Die biologische Vorgeschichte des Menschen. Zu einem Schnittpunkt von Erzählordnung und Wissensformation. Hg. von Johannes F. Lehmann, Roland Borgards und Maximilian Bergengruen. Freiburg i. Br.: Rombach 2012.
- Sexualität, Recht, Leben. Zur Entstehung eines Dispositivs um 1800. Hg. von Maximilian Bergengruen, Johannes F. Lehmann und Hubert Thüring. München: Wilhelm Fink 2005.
Forschungsvorhaben: Arbeitskraft/Schwerkraft – oder: Steine heben
Das Projekt beschäftigt sich mit Begriff und Sache der ‚Arbeitskraft‘ und ihrer (literarischen) Darstellung und (theoretischen) Reflexion im Hinblick auf Gewicht und Schwere der Steine. Zunächst ist danach zu fragen, wie und in welchem Kontext der Begriff der ‚Kraft‘ mit dem der ‚Arbeit‘ gekoppelt wird. Im Kontext der für die Anthropologie der Aufklärung typischen Parallelisierungen von Natur und Moral werden die naturwissenschaftlichen Kraftbegriffe (Newton, Blumenbach) verstärkt auf den Gesamthaushalt menschlicher Kräfte und Fähigkeiten übertragen: Tatkraft, Lebenskraft, Bildungskraft, Denkkraft, Kraftgefühl, Nervenkraft, Spannkraft etc.). Der Begriff der Arbeitskraft fehlt allerdings zunächst und wird erst in juristischen und ökonomischen Kontexten im Zusammenhang mit Staatlichkeit im Laufe des 19. Jahrhunderts relevant.
Mit dem Kraftbegriff, wie er die Anthropologie des späten 18. Jahrhunderts prägt, ist nicht länger bloß ein Vermögen, eine bloße Fähigkeit gemeint (wie die Imagination oder die Vorstellungskraft), sondern – ganz analog zum Begriff des Lebens selbst – eine Widerstandüberwindungsenergie. Dieser Aspekt ist für die Entstehung des Begriffs der Arbeitskraft zentral und schreibt sich einerseits von den Modellen der Gravitation her, die auf den Menschen übertragen werden und andererseits von der im späteren 18. Jahrhundert entdeckten Selbstreferenz von Kraftausübung im Gefühl. Kräfteausübung in Form selbstreferentieller Wahrnehmung im Gefühl (Selbstgefühl) wird außerdem zum Element der Glückslehre: „Nach einem Ziele streben und dies Ziel mit Aufwand physischer und moralischer Kräfte erringen, darauf beruht das Glück des rüstigen, kraftvollen Menschen.“ (Humboldt). Dies setzt den Kräftesteigerungsimperativ und die Organisation von Arbeitskräften in einer Weise unter Druck, die die Aufklärung selbst zur Disposition stellt. Die Frage danach, welche Kräfte wie hervorgebracht und gebraucht werden und welche Formen des (selbstreferentiellen) Lohns ihnen gegenüberstehen, führt etwa zur Einsicht, dass, wie es bei Schiller im Geisterseher heißt, die Sklaven die „Steine zu den Pyramiden“ trugen, aber nur die Könige den Anblick der Pyramide genießen. Der schwere Stein ist das Paradigma des Widerstands, an dem sich Arbeitskraft bemisst und diese somit als Widerstandsüberwindungsenergie erscheinen lässt, die sich in der Leistung für den Lebensunterhalt verbraucht.
Anhand von theoretischen und literarischen Texten soll die Frage nach Kraft und Arbeitskraft im Hinblick auf das Heben von Steinen und die Inszenierung von Arbeit und Kraft untersucht werden.
Forschungsergebnisse: Arbeitskraft/Schwerkraft – oder: Steine heben
Die Konzepte von Schwerkraft und Arbeitskraft sind spezifisch moderne Konzepte. Sie haben sich erst im 19. Jahrhundert ausgebildet, und zwar in einer wechselseitigen Kopplung, die sowohl für die Bestimmung des Begriffs der (physikalischen) Kraft wie für die Konzeptualisierung der ökonomisch nutzbaren Arbeitskraft von Mensch und Tier grundlegend war. Die bisher nicht untersuchte bzw. befragte Kopplung von Arbeit und Kraft im Begriff der ‚Arbeitskraft’ sowie die Virulenz des Begriffs in Physik und in Ökonomie, aber auch in der Bewegungs-, Sinnes- und Ernährungsphysiologie des 19. Jahrhunderts ist überhaupt nur zu erklären vor dem Hintergrund einer grundlegenden Transformation im Einsatz des Begriffs der Kraft um 1800. Voraussetzung ist, das ist das zentrale Ergebnis meiner Forschungen im Rahmen meines Fellowships in der Kolleg-Forschungsgruppe, die Einwanderung des Konzepts der Schwerkraft bzw. der Gravitation in die anthropologischen Reflexionen und das Selbstbild des Menschen als hindernisüberwindendes, lebendiges Kraftsubjekt. Vor diesem Hintergrund wird allererst der moderne, abstrahierende Begriff der ‚Arbeitskraft‘ in seiner Überblendung von Ökonomie, Physiologie, Physik und Leben plausibel. Publiziert werden die Ergebnisse u.a. in meinem Aufsatz: Force of Gravity/Power of Labour — or: Heaving Stones in: Thomas Moser, Wilma Scheschonk (Hg.): Strained Bodies. Physical Tension in Art and Science, der 2022 erscheint.