Prof. Dr. Caroline Torra-Mattenklott
Vita
Caroline Torra-Mattenklott ist Professorin für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Wissensformen an der RWTH Aachen. Sie promovierte 1999 an der Universität Konstanz mit einer Arbeit zum Thema Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert und habilitierte sich 2014 an der Universität Bern mit dem Buch Poetik der Figur. Zwischen Geometrie und Rhetorik: Modelle der Textkomposition von Lessing bis Valéry. Von 2000 bis 2011 war sie Oberassistentin bzw. wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Seminar der Universität Zürich, von 2011 bis 2015 Oberassistentin am Institut für Germanistik der Universität Bern, von 2015 bis 2016 Professorin am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und an der Friedrich Schlegel-Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien, Freie Universität Berlin. Seit 2020 ist sie Mitherausgeberin der Zeitschrift figurationen. gender – literatur – kultur.
Publikationen (Auswahl)
- Metaphorologie der Rührung. Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München: Fink, 2002 (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 104).
- Poetik der Figur. Zwischen Geometrie und Rhetorik: Modelle der Textkomposition von Lessing bis Valéry, Paderborn: Fink, 2016.
- Fest/Schrift. Für Barbara Naumann, hg. zusammen mit Stéphane Boutin, Marc Caduff, Georges Felten und Sophie Witt, Bielefeld: Aisthesis, 2019.
- „Blindheit und Takt in Goethes Wahlverwandtschaften“, in: German Life & Letters 70.4 (Okt. 2017), S. 491-505.
- „,Da sieht man, was ein Bild doch kann!‘ Bildnisbegegnung und Einbildungskraft in Richard Wagners Der fliegende Holländer“, in: figurationen. gender – literatur – kultur 19.2 (2018): Körper/Zeichen – Body/Signs, S. 105-124.
- „Literaturwissenschaft als Wissenschaft des Konkreten“, erscheint vorauss. 2020 in: Jörn Steigerwald u.a. (Hg.): Komparatistik heute, Paderborn: Fink.
- „an mich geschrieben, geschrieben an alle Welt“: Selbstbilder, publizistische Indiskretionen und ihre Reflexion in Briefen Herders, Lavaters und Hamanns, erscheint in: Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts 11 (2020): Lavater vernetzt. Gelehrtenrepublik und Digital Humanities.
Forschungsvorhaben:
Wissenschaften des Konkreten – Ästhetische Abstraktion
Das Projekt „Wissenschaften des Konkreten – Ästhetische Abstraktion“ befasst sich mit den komplementären Prinzipien der Abstraktion und Konkretion als poetischen und epistemischen Verfahren. Der von Claude Lévi-Strauss geprägte, zuletzt von Hans-Jörg Rheinberger wieder aufgenommene Begriff „Wissenschaften des Konkreten“ geht auf eine von Auguste Comte vorgeschlagene Einteilung der akademischen Disziplinen zurück, die quer zur späteren Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften verläuft, lässt sich aber bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Ab dem späten 19. Jahrhundert spielte das Konzept eine zentrale Rolle im Zusammenhang mit Bemühungen, die historischen Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften und ihren vermeintlich universalen methodischen Prinzipien abzugrenzen. Die zuweilen ethisch konnotierte Hinwendung zum Konkreten impliziert die Erforschung des Individuellen und die Privilegierung der sinnlichen Erfahrung in den Wissenschaften – etwa in der Naturgeschichte – ebenso wie in der Literatur und Theorie, z.B. in der Ästhetik A. G. Baumgartens, in den Erzählungen Adalbert Stifters, in den Ding-Texten Francis Ponges, in Walter Benjamins Kurzprosa oder in Roland Barthes’ Theorie der Fotografie. Im Rahmen des Projekts geht es 1.) um die Rekonstruktion der skizzierten epistemologischen Diskussion, 2.) um die exemplarische Untersuchung literarischer und essayistischer Texte, die sich in Grenzgängen zwischen epistemischer und ästhetischer Praxis dem Studium des Konkreten widmen, und 3.) um die Beschreibung der Abstraktions- und Transformationsverfahren, die bei der poetischen Anverwandlung des Konkreten zum Tragen kommen.
Kräfte des Konkreten als poetische Wirkungs- und Formprinzipien
Als Fellow der Forschungsgruppe „Imaginarien der Kraft“ befasse ich mich mit der Konstellation von Kraft, Konkretion und Kürze in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts. Ausgangspunkt ist der rhetorische Begriff der vis eloquentiae bzw. vis dicendi, der sowohl in der Rhetorik selbst als auch in der rhetorisch fundierten Poetik und Ästhetik metaphorisch in Bildern organischer und mechanischer Kräfte ausgestaltet wird. Wirkmächtige Rede ist in dieser Tradition konkret und verliert sich nicht in allgemeinen Umschweifen. Im 18. Jahrhundert wird das Stilideal der prägnanten Kürze in Begriffen wie denen des ‚körnigten Stils‘, der ‚Hieroglyphe‘ oder des ‚Machtworts‘ verhandelt. Im 20. Jahrhundert kehrt die Konstellation von Kraft, Konkretion und Kürze wieder in der Ästhetik Theodor W. Adornos und in der Poetik kleiner Formen, etwa bei Franz Kafka, Blaise Cendrars und Alfred Polgar. Die Frage nach den Kräften des Konkreten verlagert sich hier vom Stil auf das Verhältnis von Sujet und literarischer Form: Charakteristische Erfahrungen der Moderne wie die der Beschleunigung des Alltagslebens kondensieren sich in Darstellungen des Großstadt- und Reiseverkehrs, die dessen Wucht und Geschwindigkeit durch Verfahren der sprachlichen Verknappung Rechnung tragen. In Lektüren ausgewählter Kurztexte der Moderne analysiere ich die form- und strukturkonstituierende Funktion von Kräften, die an den dargestellten Gegenständen zutage treten und den Texten zugleich ihre spezifische Statik, Dynamik oder Elastizität aufprägen.
Forschungsergebnisse:
Kräfte des Konkreten als poetische Wirkungs- und Formprinzipien
Im Rahmen meines Fellowships habe ich zwei Themen aus dem Kontext meines Projekts „Wissenschaften des Konkreten“ bearbeitet und auf das Rahmenthema „Imaginarien der Kraft“ ausgerichtet: die Theorie des ‚körnigen Stils‘ im 18. Jahrhundert und das Konzept der Elastizität in der frühen Lyrik Blaise Cendrars’. Meine Studien zum körnigen Stil gingen zum einen von der Beobachtung aus, dass die Kraft der Rede in der Rhetorik und Stilistik oft mit Kürze assoziiert wird, zum anderen von der These Adornos, dass die Lakonie eine besondere Eigenschaft des bürgerlichen Stils sei, die auf Notdurft und Sparsamkeit zurückgehe. Tatsächlich wird die Kürze im 18. Jahrhundert zum Gegenstand einer bürgerlichen Stilistik. Entsprechend der Metaphorik des ‚Körnigen‘, die sich auf das ‚Korn‘, d.h. den Edelmetallgehalt des Goldes oder den nahrhaften Kern des Getreides bezieht, wird ihre Kraft jedoch eher mit Reichtum als mit Dürftigkeit begründet. So attestierte z.B. Leibniz der deutschen Sprache ein großes Potential fachsprachlicher Ausdrücke für konkrete Gegenstände aus den Gebieten der Naturwissenschaften, der Seefahrt, des Handels, des Bergbaus und des Handwerks. Diese Vielfalt barg das Versprechen eines kraftvollen und lebendigen Stils, der sich nicht in matten Umschreibungen verlieren, sondern die Dinge präzise beim Namen nennen sollte.
Ausgangspunkt meiner Untersuchungen zu Cendrars’ Konzept der Elastizität war der Titel seines Gedichtbandes Poèmes élastiques von 1919. Im Sinne semantischer Dehnbarkeit ist Elastizität in Cendrars’ Lyrik mit Transformationen, Dehnungen und Stauchungen im räumlichen Sinne assoziiert und wird auch auf der Ebene der Buchstaben wirksam. In medialer Hinsicht erwies sich dieses Konzept auch als fruchtbar für die Analyse des von Cendrars zusammen mit Sonia Delaunay-Terk gestalteten Leporellos La Prose du Transsibérien et de la petite Jehanne de France von 1913: Die Operationen des Dehnens und Stauchens sind im Leporello materiell angelegt und korrespondieren mit der im Gedicht beschriebenen Bewegung im Raum. Elastizität lässt sich hier als ein mit dem Simultanismus verwandtes poetologisches Konzept beschreiben, das den Akzent von der Gleichzeitigkeit und dem Nebeneinander auf die Plastizität räumlicher Objekte und Distanzen verschiebt und dabei dem spürbaren Widerstand Rechnung trägt, den die Welt der Dinge dem ästhetischen ebenso wie dem technischen Zugriff entgegensetzt.