Prof. Dr. Rüdiger Campe
Vita
Rüdiger Campe (Promotion Freiburg 1986, Habilitation Essen 2000) ist Alfred C. and Martha F. Mohr Professor of German und Professor of Comparative Literature an der Yale University. Zuvor hat er eine Professur an Johns Hopkins innegehabt und als Gastdozent u.a. an der New York University, in Konstanz, Siegen und der Europa-Universität Viadrina unterrichtet. Er war Fellow am Wissenschaftskolleg, Berlin, am IFK Wien und am Whitney Humanities Center, Yale. Er erhielt den Aby-Warburg Wissenschaftspreis und den Forschungspreis der Humboldt-Gesellschaft.
In seinen Arbeiten hat sich Rüdiger Campe mit Rhetorik (seit Aristoteles) und Ästhetik (seit Baumgarten) sowie mit Fragen zwischen Literatur, Wissenschaft und Recht beschäftigt; dazu gehören u.a. die Geschichte und Theorie der Evidenz, der Fürsprache und der Selbstaffektion. Literaturgeschichtliche Schwerpunkte sind das barocke Theater, die Rezeption der Antike in der Frühen Neuzeit und der Institutionenroman am Beginn des 20. Jahrhunderts. Publikationen gelten u.a. Racine, Gryphius, Baumgarten, Goethe, Lichtenberg, Fr. Schlegel, Kleist, Büchner, Kafka, Joyce, Musil, und Lukács sowie dem philosophischen Werk Hans Blumenbergs. 2021 widmeten die Modern Language Notes (Comparative Literature) einen Schwerpunkt seinem Konzept der Writing Scene.
Rüdiger Campe ist Mitherausgeber der Paradigms-Buchreihe (DeGruyter) und Mitglied im Beirat des ZfL Berlin, des Erich-Auerbach-Instituts, Köln, und des Zentrums für Kulturwissenschaften der Universität Graz.
Publikationen (Auswahl)
- Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990.
- Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen 2002 (Übersetzung, Stanford 2012).
- Mit A. Haverkamp und Chr. Menke: Baumgarten-Studien. Zur Genealogie der Ästhetik, Berlin 2014.
- Die Institution im Roman. Robert Musil, Würzburg 2020.
- Hg. mit M. Schneider: Geschichten der Physiognomik. Text – Bild - Wissen, Freiburg 1996.
- Hg. mit C. Buckley, F. Casetti: Screen Genealogies. From Optical Device to Environmental Medium, Amsterdam 2019.
Forschungsvorhaben: Energeia zwischen Rhetorik und Geometrie (Aristoteles)
Das Projekt gilt dem Begriff der energeia bei Aristoteles (im Umfeld der griechischen Philosophie und Mathematik). Die Fragen, die ich verfolgen möchte, bilden nach meiner Hpyothese die Grundlage für eine weit in die europäische Frühe Moderne reichende Konstellation von Kraft, Figuration und diagrammatischer Imagination. Der Schwerpunkt der Projektarbeit soll aber auf die – wie ich annehme – Aristotelische Ausgangslage beschränkt sein.
Der Kernbegriff der aristotelischen Metapysik kommt dabei in einer besonderen Verwendung in den Blick: als das ‚pro ommaton‘, das ‚Vor-Augen-Stellen‘, das Aristoteles u.a. in der Rhetorik auf die ‚verlebendigende‘ Metapher und in De Anima auf die anschauliche Gestalt der geometrischen Figur bezieht. Während die Funktion des ‚pro ommaton‘ für die Metapher gut bekannt ist, ist weniger über den Zusammenhang mit der geometrischen Anschauung geforscht worden. An diesem Zusammenhang scheint sich mir aber grundlegend zu entscheiden, wie die Verbindung von Kraft, Figuration und Vorstellungskraft zu verstehen ist.
Die Untersuchung verfährt terminologiegeschichtlich. Terminologie bedeutet hier: der Gebrauch eines Begriffs in seinem Wechsel zwischen unterschiedlichen Geltungsbereichen (Diskursen). Erst wenn man den einen Begriff zusammen mit der Beziehung zwischen den verschiedenen diskursiven Feldern, in denen er auftritt, betrachtet, wird – so die Annahme – die Gründungsgeschichte in ihrer ganzen Bedeutung zugänglich.
Forschungsergebnisse: Energeia zwischen Rhetorik und Geometrie (Aristoteles)
Von der Bedeutung der “Evidenz” – ihres Konzepts und ihrer Praktiken – für die Wissenschaften der Neuzeit ist seit dem Ende des letzten Jahrhunderts viel die Rede gewesen; und seit geraumer Zeit ist es klar, dass der „Evidenz“ eine Schlüsselrolle in der Entstehung der Ästhetik vor Kant (Baumgarten) zukommt. Auch die Vorgeschichte dieser epistemischen und ästhetischen „Evidenz“ in der lateinischen Rhetorik und Poetik von Mittelalter und Neuzeit ist inzwischen viel behandelt worden (die repräsentierende Evidenz der enargeia und die dynamische Evidenz der energeia). Weniger beachtet worden ist aber, dass dem Figuren-Paar der lateinischen Rhetorik (enargeia and energeia), die dem Beschreiben und Erzählen dienten, in der griechischen – Aristotelischen – Rhetorik ein figurales Verfahren vorausgegegangen ist, in dem es um die Metapher ging. Genauer gesagt, geht es dabei um diejenige Metapher, die Lebloses oder Abstraktes in lebendig Wirksames überträgt (die Metapher, die etwas vor Augen stellt und dabei eine energetische Wirkung ausübt). Ich konnte zeigen, wie bei Aristoteles Seelenlehre und Geometrie, Physik, Gedächtnistheorie und Metaphysik an dem Konzept dieser Metaphorik zusammenwirken, in der Lebloses als Lebendiges zur Erscheinung kommt. Entgegen meiner ursprünglichen Annahme heißt das aber nicht, dass der Spannung zwischen repräsentierender enargeia und dynamischer energeia in der lateinischen Rhetorik in der lebendigen Metapher des Aristoteles eine Einheit aus Begriff und Figur, Metaphysik und Rhetorik bzw. Poetik zu Grunde liegt. Ganz im Gegenteil ist bei Aristoteles das „Vor-Augen-Stehen“ zum Beispiel der geometrischen Figur zunächst ohne Bezug zur energeia, die in „De Anima“ die Seele als Prinzip des Lebens und der Selbstbewegung in Menschen und Tieren erweist. Anders als erwartet, erwies sich in der Rhetorik ein politischer Zusammenhang als die Klammer, die „Vor-Augen-Stellen“ und energeia in der ‚lebendigen Metapher‘ zur funktionalen Einheit eines figuralen Verfahrens zusammenfügt. Die ‚lebendige Metapher‘, in der das „Vor-Augen-Stehen“ der Geometrie die Funktion der energeia als des Prinzips des Lebendigen annimmt, steht in der Rhetorik des Aristoteles unter der Überschrift der „asteia“: der ‚städtischen‘ Rede, die in der polis ihren Ort und ihre Möglichkeit hat (urbanitas). Nimmt man diesen Befund ernst – so ist mein Resultat –, kann man und muss man von einer im weiten Verständnis des Wortes politischen Grundlage des neuzeitlichen Verständnisses von Evidenz ausgehen.