Prof. Dr. Sabine Mainberger
Vita
Sabine Mainberger ist seit 2010 Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Bonn. Sie hat in Philosophie promoviert und in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft habilitiert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literaturen verschiedener alter und moderner Sprachen, Ästhetik und Kunsttheorie, Literatur, Kunst und Wissenschaftsgeschichte, Literarische Formen der Philosophie, Schriftgeschichte und -theorie, Linienpraktiken und Liniendiskurse. Aktuell forscht sie zu Gabenkonzepten und Künsten.
Publikationen (Auswahl)
- Linien – Gesten – Bücher. Zu Henri Michaux, Berlin/Boston: de Gruyter, 2020 (Monografie).
- Experiment Linie. Künste und ihre Wissenschaften um 1900, Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2010 (Monografie).
- Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin/New York: De Gruyter, 2003 (Monografie, Habilitationsschrift).
- zus. mit Esther Ramharter (Hg.): Linienwissen und Liniendenken. Berlin/Boston: de Gruyter, 2017.
- zus. mit Neil Stewart (Hg.): À la recherche de la ‘Recherche’. Les notes de Joseph Czapski sur Proust au camp de Griazowietz, 1940-1941/ Józef Czapskis Notate zu Proust im Gefangenenlager Grjazovec, 1940-1941, Lausanne: Les Éditions Noir sur Blanc, 2016 (deutsch und französisch).
zum Projekt Gaben und Künste:
- Grazia, Gabe und Salz. Tischszenen mit François Ier und Benvenuto Cellini, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (2022) 96.1: 1–34. https://doi.org/10.1007/s41245-022-00139-9
- ‚Grazie‘, charis, Gabe. Winckelmann gelesen mit Marcel Mauss, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (2021) 95.3: 255-312. https://doi.org/10.1007/s41245-021-00131-9
Forschungsvorhaben: Die Kraft der Gaben oder Künste, Agonismus, Sozialität – Szenarien eines work in progress
Gaben, wie sie in Marcel Mauss’ Essai sur le don (1923/24) verstanden werden, bringen Gruppen und Individuen in ein Verhältnis gegenseitiger Verpflichtungen, die erfüllt werden müssen und doch als freiwillige gelten. Anders als ökonomische und vertragliche sind die durch Geben, Annehmen und Erwidern geschaffenen Beziehungen nicht wirklich berechenbar, sie wirken dauerhaft, involvieren die Akteure als ganze, sind agonistisch. Reziprozität heißt dabei weder Äquivalenz von Gabe und Gegengabe noch Symmetrie der Macht zwischen den Akteuren. Entscheidend ist, dass die Beteiligten Partnerschaften und Allianzen schließen. Gaben wirken als außerordentlich mächtige Bindekraft. Normalerweise dienen sie der Befriedung, aber genauso können sie eine Fortsetzung von Feindschaft mit anderen Mitteln sein. Gaben haben mit Konvivialität zu tun: im Sinn von Festen und deren Atmosphäre der Generosität und Verschwendung und im allgemeineren Sinn von Zusammenleben. In beiden Bedeutungen haben die Künste eine zentrale Rolle. Sie gehören zu Festen, und wie diese selbst sind ihre Werke und Aufführungen Gaben, sie eignen sich aber auch in besonderem Maße dafür, die komplexen Interaktionen mit und Interdependenzen durch Gaben auszudrücken und zu reflektieren.
Für meinen Versuch, Künste (inkl. Literatur) und deren Theorien mit Gabenpraktiken und -konzepten zusammenzubringen, sind vor allem diejenigen Lesarten von Mauss’ Essai von Interesse, die die symbolischen Funktionen der Gabe und ihre Leistung für die gegenseitige Anerkennung akzentuieren. Ich gehe den Überschneidungen des für die europäische Kulturgeschichte wichtigen semantischen Feldes von charis, gratia, grazia, grâce etc. mit demjenigen der Gabe nach und analysiere in historisch unterschiedlichen Szenarien, wie sich in concreto Künste und soziale Gabenbeziehungen, die auch ökonomische, politische, ethische, rechtliche und religiöse Dimensionen haben, vermitteln. Themen von Einzelstudien sind z.B. Problematisierungen von charis in ausgewählten griechischen Tragödien; Gabentheorie der Kunst in Plinius’ d. Ä. Naturkunde; B. Castigliones Sozialästhetik; agonistische Konvivialität von B. Cellini und dem französischen König (s. Publikationen); Winckelmanns gratia als soziale Anerkennung nach griechischem Modell (s. Publikationen); Schillers Ästhetik, gabentheoretisch gelesen; Konvivialität und Krieg im modernen Gesellschaftsroman; Künstlertum und Sozialität in Avantgarden des 20. Jahrhunderts; Inversion des Gabenparadigmas in zeitgenössischer experimenteller Kunst und Literatur.
In meiner Zeit als Fellow möchte ich Ausschnitte aus diesem work in progress vorstellen, einzelne Essays in eine definitive Fassung bringen und mindestens einen weiteren ausarbeiten.
Forschungsergebnisse: Die Kraft der Gaben oder Künste, Agonismus, Sozialität – Szenarien eines work in progress
In meiner Zeit als Fellow habe ich v.a. an zwei größeren Studien gearbeitet: an einer zu Baldassar Castigliones Libro del cortegiano (1528) und an einer zu Friedrich Schillers Schriften zur Ästhetik in den 1790er Jahren. In beiden geht es auf jeweils sehr verschiedene Weise um Ästhetisches als soziale Bindekraft.
Castigliones Überlegungen zu grazia als Schlüssel höfischen Verhaltens werden in meiner Studie als solche zum zeremoniellen Geben und damit zum Agon um Anerkennung, Reziprozität und Konvivialität reformuliert. Dabei lösen sich die Paradoxien, für die der Term grazia und seine Verwandten berüchtigt sind, nicht auf. Der Gewinn liegt indes darin, dass grazia nicht ästhetisch verengt verstanden und nicht in eine Geschichte der Unbegrifflichkeit eingeordnet wird, die im Ästhetischen letzten Endes eine Kompensation für Religiöses oder Theologisches sieht. Der Begriff wird vielmehr auch als Indikator einer sozialen Praxis aufgefasst, die uns einerseits sehr fremd ist und daher mit ethnologischer Hilfe erschlossen werden muss und die uns andererseits zu analysieren erlaubt, wie Anerkennung, Subjektkonstitution und die Schaffung von Sozialität zusammenhängen.
An Schillers Essays geht es um die Frage, wie Ästhetisches und Soziales intrinsisch zusammengehören bzw. darum, inwiefern seine Konzeptionen von Schönheit, Anmut/Grazie u.a. mit sozialer Kohäsion zu tun haben. Ich versuche zu zeigen, dass seine theoretischen Texte Modelle gegenseitiger Bindung und freiwilliger Selbstbindung aufrufen, die Gabenpraktiken implizieren. Je nach Variante und Kontext werden diese von Schiller unterschiedlich beurteilt. Grundsätzlich arbeitet er mit und gegen Kant daran, das Subjekt neu zu modellieren, nämlich als eines, das verkörpert ist und in Relationen zu anderen und genauer: in Gabenverhältnisse eingebettet.