Prof. Dr. med. Philipp Osten
Foto: Raphael Heygster
Vita
Philipp Osten leitet das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin am UKE und ist Direktor des Medizinhistorischen Museums Hamburg. Besonders interessiert er sich für die Wechselbeziehungen zwischen Medizin, Politik und Öffentlichkeit. Unter dieser Perspektive befasst er sich u. a. mit Naturphilosophie, Geschichte der Kinderheilkunde und der Psychiatrie, Medizin im Nationalsozialismus, kolonialen Sammlungen, Seuchen und Filmen.
An der Berliner Charité promovierte er über die Geschichte der Sozialfürsorge für körperbehinderte Kinder und forschte über den Gebrauch von Patientenfotografien in Kaiserzeit und Weimarer Republik. In Heidelberg habilitierte er sich mit einem Buch über die Geschichte des Schlafs. Drittmittelprojekte befassten sich u. a. mit der Humangenetik und mit so genannten Kulturfilmen. Seine aktuelle Ausstellung ‚Pandemie, Rückblicke in die Gegenwart‘ zeigt das Medizinhistorische Museum Hamburg bis Anfang April 2023.
Publikationen (Auswahl)
- Pockengift. Geschichten aus der Berliner Impfbibliothek. Kursbuch 206 (2021), S. 20-46.
- Politik und Gesundheitsaufklärung in Ausstellungen, Plakaten und Filmen, 1880–1980. In: Schmiedebach, Heinz-Peter (Hg.): Medizin und öffentliche Gesundheit: Konzepte, Akteure, Perspektiven. Berlin 2018, S. 201-230.
- Das Tor zur Seele. Schlaf, Somnambulismus und Hellsehen im frühen 19. Jahrhundert. Paderborn 2015.
- Attraktion und Belehrung in Kinos und Schulen der Weimarer Republik, In: Osten, Philipp, Moser, Gabriele, Bonah, Christian (Hg.): Das Vorprogramm. Lehrfilm, Gebrauchsfilm, Propagandafilm. Strasbourg, Heidelberg 2015, S. 95-190.
- Die Stimme von Solferino, Telegraphie und Militärberichterstattung. In: Eckart, Wolfgang U., Osten, Philipp (Hg.): Schlachtschrecken, Konventionen. Das Rote Kreuz und die Erfindung der Menschlichkeit im Kriege, Freiburg 2011, S. 175-197.
Forschungsvorhaben: Widerstandskräfte. Konzepte von Immunität und Abwehr
Populär wurde die Vorstellung von der Widerstandkraft des Organismus vor knapp 150 Jahren. Sie passt gut in die Zeit der aufkommenden Bakteriologie, als die Medizin erste Konzepte von einer Immunität gegen ansteckende Krankheiten entwickelte. Doch verbreitet hat die Ideen von den gesund erhaltenden Kräften zunächst der schwäbische Tierarzt Gustav Jäger, der als Naturheilkundler reüssierte und wegen seines vehementen Webens für Wollunterwäsche als Woll-Jäger in die Geschichte der Alternativmedizin einging. Schon 1880 wird der von ihm geprägte Begriff Widerstandskraft von dem antisemitischen Hofprediger Adolf Stöcker als politische Metapher genutzt.
Ziel des Projekts ist, die medizinischen Konzepte von den Abwehrkräften nachzuvollziehen und sie gemeinsam mit den auf sie gerichteten Nachweismethoden in ihre historischen Kontexte einzuordnen. Parallel dazu sollten die wechselnden Konjunkturen des rhetorischen Gebrauchs der Begriffe Widerstands- und Abwehrkraft wahrgenommen werden. Bisweilen wurden auch in der Immunologie ideologisch motivierte Vorstellungen diskutiert. Ein Beispiel sind frühe Überlegungen zur Übertragbarkeit von Aids Anfang der 1980er Jahre, in die offensichtlich Moral und weniger sichtbar auch Ökonomie hineinspielte. Aktuell sehr beliebt, gerade in Zusammenhang mit der Schilderung von Krisen, ist eine besonders wissenschaftlich klingende Ausprägung des Begriffs Widerstandskraft: die Resilienz.
Forschungsergebnisse: Widerstandskräfte. Konzepte von Immunität und Abwehr
Die größte Bereicherung meines Fellowships bestand in dem anregenden Austausch mit dem Team der Imaginarien und den Fellows im Winter 2022/23. Über medizinische Kräfte in der Zeit um 1800 hatte ich in den vorangegangenen Jahren gearbeitet. In einer letzten Synthese aus akademischer Philosophie und einer sich erstmals am Krankenbett formierenden Medizin wurden Konzepte von animalischem Magnetismus (den Samuel Hahnemann und Carl Alexander Ferdinand Kluge mit einer Verschiebung sexueller Kräfte in Verbindung brachen) und Lebenskraft formuliert, deren Atavismen bis heute erkennbar sind.
Während meines Fellowships habe ich mich mit dem Konzept der Abwehrkraft in der Medizin um die Jahrhundertwende und in den 1980er Jahren befasst. Vor 1900 entstand ein erstes Konzept der zellulären Immunität. Der Dermatologe Paul Gerson Unna beobachtete im Mikroskop die Wanderung von Zellen aus dem Blut ins Gewebe. Antiseren gegen bakterielle Gifte wurden entwickelt. Vorstellungen von einer Schulung des körpereigenen Abwehrsystems prägten pharmakologische Entwicklungen. Renommierte Firmen brachten unspezifische Impfstoffe auf den Markt, die das Immunsystem insgesamt anregen sollten. Diese wirtschaftlich sehr erfolgreichen Produkte wurden bis zur Einführung staatlich reglementierter Arzneimittelprüfungen (in Deutschland erst Ende der 1960er Jahre) produziert. Als Quelle diente mir ein Bestand der Marburger Behring-Werke.
Archivalien aus den ersten Jahre nach Bekanntwerden der „neuen Krankheit Aids“ lieferten die Basis für den epistemologischen Teil meiner Forschungen. Die Abwehrschwäche, „immune deficiency“, gab der Krankheit ihren Namen. In den ersten vier Jahren nach ihrem Bekanntwerden gab es weder einen identifizierten Erreger, noch einen Test, um die Krankheit zu erkennen. Die Diagnose erfolgte auf Basis von Krankheitssymptomen. Der einzige messbare Hinweis auf die Ursache war ein Vergleich unterschiedlicher Gruppen von T-Zellen, deren immunhistochemische Differenzierung erst wenige Jahre zuvor an wenigen spezialisierten Forschungseinrichtungen möglich geworden war.