Prof. Dr. Christian Kassung
Vita
Christian Kassung ist seit 2006 Professor für »Kulturtechniken und Wissensgeschichte« an der Humboldt-Universität zu Berlin. Nach dem Studium der Germanistik und Physik in Aachen und Köln wurde er 1999 an der Universität zu Köln mit einer Dissertation zum Thema »EntropieGeschichten. Robert Musils ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ im Diskurs der modernen Physik« promoviert. 2007 erfolgte die Habilitation mit einer Arbeit zur Wissensgeschichte des Pendels für das Fach Kulturwissenschaft. Von 2018 bis 2023 leitete er die Kultur-, Sozial- und Bildungswissenschaftliche Fakultät als Dekan. Er ist Mitglied des »Hermann von Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik« (HZK) und des »Centers for the Science of Materials Berlin« (CSMB). Am Exzellenzcluster »Matters of Activity« wirkt er als Principal Investigator. Im Sommersemester 2023 ist er Senior Fellow in der DFG-Kolleg-Forschungsgruppe »Imaginarien der Kraft« an der Universität Hamburg.
Die Professur »Kulturtechniken und Wissensgeschichte« verbindet die Erforschung der Kulturtechniken als einem impliziten, sowohl Praktiken wie Dinge umfassenden Wissen mit der Frage nach den historischen, materiellen und medialen Bedingungen von Wissen. Das Forschungsprofil ist somit nicht nur strikt interdisziplinär, sondern konzentriert sich auch auf die Randzonen, an denen neues Wissen entsteht, Störungen verhandelt, hegemoniale Ansprüche verfochten und Übersetzungen geleistet werden. Arbeitsschwerpunkte sind die Wissens- und Kulturgeschichte der Physik, die Kulturtechniken der Industrialisierung sowie die Geschichte und Praxis technischer Medien.
Publikationen (Auswahl)
- Christian Kassung: »Virtual Head and Analogue Simulation: John Smeaton, 1759«. Mai 2021. http://doi.org/10.5281/zenodo.4742656.
- Christian Kassung: »Gleich(zeitig)e Bilder. Über Anfänge und Störungen der Bildübertragung/Similar (and Simultaneous) Images. On the Inceptions and Interruptions of Image Transmission«. In: Send Me an Image. From Postcard to Social Media. Hrsg. von Kathrin Schönegg Felix Hoffmann. Berlin: Steidl, April 2021, S. 51–63.
- Alwin J. Cubasch, Vanessa Engelmann und Christian Kassung: »Theorie des Filterns. Zur Programmatik eines Experimentalsystems«. April 2021. http://doi.org/10.5281/zenodo.4731045.
- Christian Kassung: Fleisch. Die Geschichte einer Industrialisierung. Paderborn: Ferdinand Schöning, 2020.
- Christian Kassung: »Die Flügel der Concorde. Analogsimulation als Sichtbarmachung von Störung«. In: Visuelle Zeitgestaltung. Hrsg. von Claudia Blümle, Claudia Mareis und Christof Windgätter. Bd. 15. Bildwelten des Wissens. Berlin und Boston: Walter de Gruyter, Dezember 2019, S. 33–44.
Forschungsvorhaben: Der Blick in den Vortex
Der Begriff Vortex bezeichnet den trichterförmigen Sog einer Flüssigkeit oder eines Gases. Als Konzept aber wirbelt er ähnlich dynamisch die Ebenen des Bildes, der Metapher und des Begriffs durcheinander, wie das Phänomen, das er ist. So chaotisch diese Bewegung des Vortex ist, zeichnet sie sich doch durch zwei fundamentale Richtungen aus: die Rotation in der Ebene und die senkrecht dazu stehende Schwerkraft. Dabei entzieht sich der Strudel seiner Fixierung; er hat kein definiertes Innen und Außen. Das rotierende Außen greift potentiell unendlich weit. Das sogende Innen weist in eine andere Welt, es bricht die Dimension, zeigt auf das Reale.
Die kulturelle Breite des Vortex-Konzepts ist enorm. So läßt Herman Melville Ismaels Reise an Land beginnen, aber im Vortex enden. Während aber Ismael dem Strudel entkommt, werden wir als Zuschauer nur umso tiefer in die unentrinnbaren Gedankenströme Scottie Fergusons hineingezogen, den Alfred Hitchcock seiner totgelaubten Frau nachjagen läßt. Michel Serres sieht den Beginn der modernen thermodynamischen Physik bei Lukrez, wohingegen sich Descartes der Wirbel bedient, um damit – im Widerspruch zur Newtonschen Physik – die Schwerkraft zu erklären. Und während sich William Turner bei stärkstem Seegang an einen Mast binden läßt, um einen »Snow Storm« malen zu können, stürzt sich Tullio Crali 1939 »Im Sturzflug auf die Stadt«, um die Idee des Vortizismus zu illustrieren.
Vor diesem Hintergrund fragt das Projekt nach der spezifischen Realitätserfahrung, die sich im Blick in den Strudel manifestiert. Verweist die Gleichzeitigkeit von komplexer Hydrodynamik und moderner Subjekterfahrung auf eine krisenhafte Realitätsverdopplung, für die der Vortex als Bild und Metapher einsteht?
Forschungsergebnisse: Der Blick in den Vortex
Im Wirbel vermischen sich Bildlichkeit, Wissen und kulturelle Übertragung ähnlich dynamisch und vielfältig wie im Phänomen, das er selbst ist. Diesem Befund einer massiven diskursiven Dichte schließt sich zwangsläufig die Frage nach deren Begründung an. Das Projekt geht dabei von der These einer epistemischen Gleichzeitigkeit von komplexer Hydrodynamik und bedrohtem Subjekt um 1900 aus. Entsprechend korreliert der »Blick in den Vortex« einer spezifischen Wirklichkeitserfahrung, die mit Luhmann als krisenhafte Realitätsverdopplung bezeichnet werden kann.
Entsprechend verweist die diskursive Attraktivität des Wirbels auf die Möglichkeiten einer kulturell produktiven Selbstvergewisserung, die das moderne Subjekt entlang der epistemischen Schnittfläche von Determinismus und Aleatorik findet bzw. auslotet. Damit prägt die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts vollziehende »Revolution der Materie« (Serres [1994] 2010, 92) auch den Vortex. Mit Poncelet (1822) wird der Vortex zu einer Gruppe von Formen, und es gilt, die Momente der Stabilität und Instabilität dieser Gruppe in einen Bezug zur Wissensgeschichte zu setzen. Mit der Thermodynamik kommt die Statistik (Boltzmannkonstante k) erstmals als Werkzeug in die Physik, mit der Quantenmechanik (Plancksches Wirkungsquantum h) wird sie fundamental. Vor diesem wissenschaftshistorischen Hintergrund geht es also nicht nur im Asendorfschen Sinne um »Ströme und Strahlen« (vgl. Asendorf 1989), sondern um den prinzipiellen Zusammenbruch der Vorstellung einer letzten Materie: Flüssiges und Festes ist per se nicht unterscheidbar. Insofern ist der Vortex immer schon eine Figur des Flüssigen und Festen. Er sprengt die Immersion und entfaltet darin eine Medienreflexion, die zu transgressiven Gesten von Text, Bild, Film usf. führt. Der Vortex ist immer zugleich ein objektives wie subjektives Phänomen, wie beispielsweise in Hitchcocks »Vertigo« deutlich wird.
Bei allem Chaotischen, das die Bewegung des Vortex auszeichnet, lassen sich doch die beiden fundamentalen Richtungen einer potentiell unendlich ausgreifenden Rotation und einer hierzu senkrechten, linearen Bewegung, die mit einem Dimensionsbruch einhergeht, unterscheiden. Dies korreliert einer selbstreflexiven Zeitdehnung am diskontinuierlichen Übergang in eine andere Dimension (Diskontinuität) und einer dauerhaften Bewegung (Kontinuität), die zwangsläufig die Frage nach ihrer eigenen Vergangenheit und Zukunft aufwirft.
Bibliographie
- Asendorf, Christoph. 1989. Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900. Vol. 18. Werkbund-Archiv. Gießen: Anabas-Verlag.
- Serres, Michel. (1994) 2010. Über Malerei. Vermeer – La Tour – Turner. Hamburg: Philo Fine Arts.