Prof. Dr. Birgit Recki
Foto: Volker Gerhardt
Vita
Birgit Recki ist Professorin für Philosophie an der Universität Hamburg, seit April 2020 Seniorprofessorin. Sie ist Herausgeberin der Hamburger Ausgabe der Gesammelten Werke Ernst Cassirers in 25 Bänden (1997-2009). Ihre Arbeitsgebiete sind Ethik, Ästhetik, Kulturphilosophie/Anthropologie; ihre Forschungsschwerpunkte liegen historisch im 18. Jahrhundert (Kant; Aufklärung) und in der zeitgenössischen Philosophie (Neukantianismus; Kritische Theorie der Gesellschaft; Philosophische Anthropologie), systematisch auf Grundlegungsproblemen der Ethik (Freiheit, Verantwortung, moralisches Handeln, die Rolle der Gefühle in der moralischen Orientierung); Ethik und Ästhetik; Theorie der ästhetischen Erfahrung; Ästhetik des Kinos; Anthropologie/Philosophie der Kultur; Philosophie der Technik. Sie ist seit 2006 Vorsitzende der Internationalen Ernst-Cassirer-Gesellschaft und seit 2014 Mitdirektorin des Hamburger Warburg-Hauses.
Publikationen (Auswahl)
- Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt am Main 2001.
- Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004.
- Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt. Aufsätze zu Immanuel Kant, Paderborn 2006.
- Freiheit, Wien 2009.
- Cassirer, Stuttgart 2013.
- Natur und Technik. Eine Komplikation, Berlin 2021 (nominiert für den Tractatus-Preis für philosophische Essayistik 2021).
Forschungsvorhaben: Kultur, Freiheit, Lebendigkeit: Immanuel Kant und Ernst Cassirer über „Einbildungskraft“
In der Kantischen Konzeption von menschlicher Kultur und Freiheit ist mehr Natur gegenwärtig und wirksam, als es die Konzentration des Rezeptions-Mainstreams auf die in methodischem Interesse ausgezeichneten Problemfelder einer kritischen Transzendentalphilosophie vermuten lässt. Ich möchte in meinem Forschungsprojekt zunächst exemplarisch am Begriff der Einbildungskraft die Einsicht qualifizieren, dass bereits in Kants Konzeption der Erkenntniskräfte bzw. Gemütskräfte als spontanen Vermögen deren Begriff als Wirkung natürlicher Lebendigkeit impliziert ist. In diesem Zusammenhang mag auch die Untersuchung Kantischer Termini wie „Kraft“ und „Vermögen“ und deren lateinische und griechische Entsprechungen (vis; dynamis/potentia) eine bessere Einsicht in die zugrundeliegende Konzeption bringen. Dabei gilt es indessen den Einwand zu prüfen, dass es sich in Kantischen Termini wie Erkenntniskraft, Einbildungskraft und Urteilskraft „nur“ um Metaphern handle.
Ich möchte daraufhin der Spur der Kantischen Konzeption einer lebendigen Kraft im Subjekt der Erkenntnis und des Handelns in Ernst Cassirers Philosophie der Kultur nachgehen: Denn im grundlegungstheoretischen Zentrum der Philosophie der symbolischen Formen, die Cassirer ausdrücklich als Transformation der Kritik der Vernunft in Kritik der Kultur und dabei als Transzendentalphilosophie nach dem Kantischen Modell begreift, steht die Einbildungskraft als produktive Synthesis, auf der alle kulturelle Hervorbringung beruht.
Meine Erwartung: In beiden Theorien, der Kantischen wie derjenigen Cassirers, sind im Blick auf Konzeption, Funktion und Status der Einbildungskraft als einer Wirkung natürlicher Lebendigkeit Präzisierungen zum Verhältnis von Natur und Freiheit zu gewinnen.
Forschungsergebnisse: Kultur, Freiheit, Lebendigkeit: Immanuel Kant und Ernst Cassirer über „Einbildungskraft“
Kants Konzeption der Einbildungskraft, für die erkenntnistheoretische Forschung kanonisch, ist in der Rezeption seiner Philosophie der Freiheit noch nicht `angekommen´. Mein Forschungsprojekt in Imaginarien der Kraft (Sommer 2022) war dem wenig beachteten genuinen Modus von Freiheit gewidmet, den er in seiner Theorie der Einbildungskraft behauptet. Als Implikation ist diese Freiheit schon im Schematismus-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft thematisch – in der These, dass der Einbildungskraft mit der Produktion des mentalen Bildes (Schema) die initiale Leistung bei der Synthesis des Gegenstandes zukomme. Explizit wird sie erst in der dritten Kritik mit der Analyse des ästhetischen Urteils als vom Anspruch auf Erkenntnis entlasteter Reflexion („freies Spiel der Erkenntnisvermögen“) und der Theorie der Kunst als „Hervorbringung durch Freiheit“: Künstlerische Produktion entspringe einer Einbildungskraft, die „sehr mächtig“ sei „in Schaffung gleichsam einer andern Natur aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche giebt“. In meiner Vermutung, dass dieser Konzeption in Kants kritischer Philosophie größere systematische Relevanz zukommt, als bloß für die Detaillierung von Modi der Freiheit, habe ich insbesondere den begrifflichen Status von „Kraft“ im Terminus „Einbildungskraft“ (desgleichen: „Urteilskraft“; „Erkenntniskraft“) zu klären versucht: In dem frühen wissenschaftstheoretischen Beitrag (Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte, 1748) springt Kants Position in der Vis-viva-Debatte ins Auge: seine Insistenz auf der Qualifizierung der vis viva als vis activa, und dabei derselbe Begriff von Spontaneität (Selbsttätigkeit), durch den er in der Vernunftkritik die weltkonstitutiven Vermögen des Subjekts auszeichnen wird. Es ist davon auszugehen, dass Kants Rede von „Einbildungskraft“ nicht metaphorisch ist. Im Freiheitsmodus der Einbildungskraft als sinnlichen Vermögens darf ein systematisch signifikantes Element der Überwindung des Dualismus von Natur und Freiheit gesehen werden, die sich Kant mit der Kritik der teleologischen Urtheilskraft vornimmt.